Systembiologie im Doppelpack

Das Bild zeigt Ursula Klingmüller und Jens Timmer bei der Präsentation gemeinsamer Projekte in Heidelberg.

Ursula Klingmüller und Jens Timmer präsentieren gemeinsame Projekte in Heidelberg. (Quelle: Ulrike Conrad/DKFZ)

Ursula Klingmüller und Jens Timmer im Doppel-Portrait

Von Svantje Braun

Es war im Jahr 1999, als sich Ursula Klingmüller und Jens Timmer zum ersten Mal begegneten. Ursula Klingmüller leitete damals eine Nachwuchsgruppe am Freiburger Max-Planck-Institut für Immunologie. Fasziniert von den komplexen Prozessen, die innerhalb einer Zelle die Signalweitergabe steuern, war die Molekularbiologin auf der Suche nach einer Kollaboration, die „etwas Ordnung“ in die Moleküle bringen würde. Ein Anruf bei Jens Timmer, zu der Zeit frisch habilitierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Physikalischen Institut der Universität Freiburg, war der erste Schritt eines langen gemeinsamen Weges. Beide Wissenschaftler sind überzeugt, dass durch die Kombination biologischer Daten mit dynamischer mathematischer Modellierung neue Erkenntnisse gewonnen werden können – und so waren sie in den vergangenen 15 Jahren maßgeblich an der Entwicklung der datenbasierten dynamischen Modellierung als Ansatz der Systembiologie beteiligt.

Der Zufall leitete Jens Timmer den Weg in die theoretische Physik. Nach seinem Abitur wären sogar Philosophie, Medizin oder Ökonomie als Studienfach in Frage gekommen. Die Entscheidung für das Physikstudium an der Universität Oldenburg fiel wegen der dort herrschenden familiären Atmosphäre in einer Arbeitsgruppe, die regenerative Energiequellen erforschte. Hier schien sein Wunsch, zur Anti-Atomkraft-Bewegung beizutragen, am besten aufgehoben. Schnell wurde ihm jedoch das Studium in Oldenburg zu technisch und er entdeckte seine Liebe zur theoretischen Physik. An der Universität Freiburg lernte er, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ – nämlich die mathematische Physik, und hatte schon früh Kontakt zu experimentellen Gruppen, anfangs aus der Medizin, später aus der Biologie.

Dagegen lag das naturwissenschaftliche Interesse bei Ursula Klingmüller bereits in der Familie. Schon ihr Vater war Genetiker, von klein auf bestand daher ihr Wunsch, es ihm gleichzutun und ebenfalls Biologie zu studieren. Die einzige Alternative, Grafik und Design, blieb ein Hobby. Sie suchte sich gezielt Heidelberg als Studienort aus, da dort die Molekularbiologie besonders weit entwickelt war. Während ihrer Diplom- und Doktorarbeit im Labor des Chemikers Professor Dr. Heinz Schaller am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg lernte sie schon früh einen sehr akkuraten Forschungsstil kennen. Thematisch beschäftigte sie sich in Heidelberg mit der Interaktion von Hepatitisviren mit Leberzellen, ein Kreis, der sich später schließen sollte – auch heute forscht ein großer Teil des Klingmüller-Labors an Funktionen, Schädigungen und Infektionen der Leber.

„Ein solides Standbein ist das A & O“

Als Nachwuchswissenschaftlerin an der Harvard Medical School und am Whitehead Institute for Biomedical Research (Boston/ Cambridge, USA) konnte Ursula Klingmüller von ihrer soliden Biologie-Grundausbildung in Heidelberg profitieren. Zusammen mit den dortigen Möglichkeiten verhalf ihr dies zu einer sehr erfolgreichen Zeit als Postdoktorandin. Auch Jens Timmer plädiert für ein solides Standbein. Er würde auch heute wieder Physik „pur“ studieren, denn die dort erlernten mathematisch- physikalischen  Grundlagen ermöglichen es einem später, „wirklich neue“ Methoden zu entwickeln – „sonst ist man einfach nur Anwender“, so Jens Timmer. Studenten raten die beiden von einer frühzeitigen Spezialisierung ab. Aufbauend auf einem soliden Grundstudium kann man sich später erfolgreich in andere Richtungen orientieren.

„Am Anfang fehlte einfach das Gefühl für die andere Disziplin“, erinnert sich Jens Timmer, der Biologie als Schulfach nach der 10. Klasse abwählte, an die ersten Jahre der Kooperation in Freiburg. Es dauerte mehrere Monate, ehe die experimentellen Daten aus dem Klingmüller-Labor den Ansprüchen des Modellierers genügten: Für das Kalibrieren eines mathematischen Modells benötigt man viele Datenpunkte, also eine hohe zeitliche Auflösung, mit möglichst kleinen Fehlern. Mit Ursula Klingmüller hatte er hier die richtige Partnerin an seiner Seite: Bereits in der ersten Publikation aus ihrer Zeit in den USA war der zeitliche Verlauf der Aktivierung der JAK2-Kinase im Erythropoietin-Signalweg zu finden. Stets bestrebt, die Aktivität von Signalproteinen in der Zelle besonders genau zu quantifizieren, entwickelte die Forscherin gemeinsam mit ihren Mitarbeitern und im stetigen Austausch mit Jens Timmer Methoden, um die biologischen Messungen besser auf die Modellierer abzustimmen. „Wir mussten viel etablieren, standardisierte Zellsysteme und Methoden waren in biologischen Laboren nicht gang und gäbe“, erklärt Ursula Klingmüller, „das hat anfangs viel Zeit gekostet.“ Im Gegenzug wurden die mathematischen Werkzeuge den biologischen Fragestellungen angepasst, und die mathematischen Gleichungen hielten in der Klingmüller-Gruppe Einzug: „Da wurde auch schon mal eine Differenzialgleichung auf einer Flugzeugserviette erklärt“, freut sich Jens Timmer. Inzwischen sind die Biologen aber nicht mehr der alleinige geschwindigkeitsbestimmende Schritt, denn der Rechenaufwand für die sehr großen mathematischen Modelle ist enorm groß geworden.

Systembiologie als neue Disziplin

Mathematische Modelle in der Biologie gibt es schon lange, neu ist die Nähe zu den Daten! Und beim fertigen Modell ist das Projekt noch lange nicht vorbei. „The model is nice to have“, dieses kann nun aber zu einem tieferen Verständnis der Biologie beitragen und in weiterführenden Experimenten auf Herz und Nieren geprüft werden. Dass durch die datenbasierte mathematische Modellierung von Signalwegen neue Einsichten erhalten werden können, musste sich aber erst einmal in den Köpfen der Gutachter durchsetzen. Ohne einem Beispiel zu folgen, begaben sich Ursula Klingmüller und Jens Timmer in dieses Neuland. Dabei mussten sie viel Mut und Risikobereitschaft aufbringen, denn auf befristeten Stellen beschäftigt stand ihre weitere Karriere auf dem Spiel. In einer glücklichen Fügung wurde die Kombination von Biologie mit mathematischer Modellierung im Rahmen des Förderprogramms „HepatoSys“ bereits sehr früh im Jahr 2004 vom Bundesministerium für Bildung  und Forschung aufgegriffen. Hier war nun die Expertise der Klingmüller/Timmer-Kooperation gefragt, die bereits das erste datenbasierte dynamische Modell für den JAK-STAT-Signalweg veröffentlicht  hatte.

Der JAK-STAT-Signalweg als Einstiegsmodell

Der JAK-STAT-Signalweg, der durch das Hormon Erythropoietin (Epo) in Vorläuferzellen der roten Blutkörperchen aktiviert wird, eignete sich hervorragend als Einstieg in die datenbasierte dynamische Modellierung. Die Signalübertragung von der Zelloberfläche zum Zellkern wird hier durch wenige Komponenten vermittelt: Den Zelloberflächenrezeptor EpoR, die Kinase JAK2, und den Transkriptionsfaktor STAT5, der Zielgene aktiviert (Abb. 1). Aufbauend auf den Messwerten aus dem Labor von Ursula Klingmüller konnten Jens Timmer und seine Mitarbeiter ein Modell für den Signalweg erstellen, das durch Experimente nicht zugängliche Einsichten ermöglichte: Der kontinuierliche Transport von STAT5 zwischen Zytoplasma und Zellkern koppelt als grundlegende Eigenschaft des Signalwegs das Geschehen an der Zelloberfläche ständig mit der Aktivierung von Zielgenen im Zellkern (Swameye et al., 2003).

Die modellbasierte Erforschung des Signalweges führte auch in den folgenden Jahren zum Erfolg. Wie Vorläuferzellen von roten Blut- körperchen, die mit einem sehr weiten Epo-Konzentrationsbereich konfrontiert sind, trotzdem auf jede Konzentration entsprechend reagieren können, war Forschern lange ein Rätsel. Ursula Klingmüller und Jens Timmer entschlüsselten gemeinsam mit ihren Mitarbeitern die Interaktion von Epo mit seinem Rezeptor EpoR. Dazu stellten sie mehrere Modelle auf, die biologische Hypothesen abbilden, von denen aber nur eines zu den experimentellen Daten passte: Epo bindet an den Rezeptor EpoR und wird mit ihm von der Zelle aufgenommen. Die Zelloberfläche wird anschließend mit neuen EpoR-Molekülen bestückt, die aus großen EpoR-Vorräten in der Zelle stammen (Becker et al., 2010).

Weitere Arbeiten konzentrierten sich auf das Geschehen im Zellinneren. Die beiden Forscher konnten die Aktivierung der MAP-Kinase ERK nach Einwirkung von Epo auf die Zellen quantitativ mit der später eintretenden Zellteilung verknüpfen (Schilling et al., 2009). Außerdem zeigten sie, wie die beiden Moleküle SOCS3 und CIS den JAK2-STAT5-Signalweg bei unterschiedlichen Epo-Konzentrationen drosseln, und so das Überleben von Zellen beeinflussen (Bachmann et al., 2011).

Systembiologie nicht nur im Blut

Das Forschungsgebiet der Erythropoese brachte Ursula Klingmüller aus ihrer Zeit in Boston mit, und sie spielt darin auch heute noch an der vordersten Front. Darauf aufbauend forscht ein großer Teil ihrer Gruppe an der Bedeutung von Epo bei Lungenkrebs. Über HepatoSys und das aktuelle Förderprogramm Virtual Liver Network kam sie zudem zurück zur Leber, die sie schon in ihrer Zeit als Doktorandin interessierte. Diese Forschungsfelder, die sie auch zusammen mit der Arbeitsgruppe von Jens Timmer bearbeitet, erscheinen recht unterschiedlich – doch die Systembiologin betont, dass die Bereiche sehr voneinander profitieren. „Das Grundprinzip, also die Signalweitergabe von einem Zelloberflächenrezeptor bis in den Zellkern, ist allen Projekten gemein. Wir untersuchen die verschiedenen Strategien, wie Zellen in unterschiedlichen Kontexten diese Aufgabe gelöst haben“, erklärt Ursula Klingmüller.

Interdisziplinäre Forschung auf Distanz

Jens Timmer ist heute Professor für Theoretische Physik an der Universität Freiburg und leitet die Abteilung „Datenanalyse und Modellierung Dynamischer Prozesse in den Lebenswissenschaften“. Ursula Klingmüller zog es 2003 zurück nach Heidelberg. Am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) leitet sie die Abteilung „Systembiologie der Signaltransduktion“, und koordiniert als Professorin für Systembiologie gemeinsam mit Ursula Kummer den Masterstudiengang „Major Systems Biology“. Zwischen beiden Arbeitsgruppen besteht ein reger Austausch. Beim jährlichen Studentenpraktikum in Heidelberg dürfen stets auch Modellierer aus Jens Timmers Gruppe Gele gießen und die Pipette schwingen, während sich die Experimentatoren aus der Klingmüller-Gruppe in Freiburg an den Computer setzen. Trotzdem ist die Distanz das größte Handicap. „Wenn wir in einer Stadt oder gar in einem Haus wären, könnten wir noch erfolgreicher und schneller vorankommen“, betont Ursula Klingmüller, ideal seien interdisziplinäre Institute. Kommunikationsprobleme gibt es aber dank der langjährigen Kooperation keine mehr. Meistens arbeitet ein „Pärchen“ aus Experimentator und Modellierer an einem Projekt. Was dann per Skype nicht geklärt werden kann, wird auf regelmäßigen Treffen diskutiert – oder bei einem gemeinsamen Retreat, wie letztes Jahr im Schwarzwald.

Von der Grundlagenforschung zur medizinischen Anwendung

Nachdem die vergangenen Jahre von Grundlagenforschung  und Methodenentwicklung geprägt waren, „öffnet sich nun ein Fenster in Richtung der medizinischen Anwendung“, so Jens Timmer. In mehreren Projekten bestehen Kooperationen mit klinischen Partnern, und beide Forscher möchten in ihrem weiteren Forscherleben mindestens einen Ansatz entwickeln, der wirklich einem Patienten am Krankenbett hilft. „Die einzige Möglichkeit, wie wir wirklich etwas beitragen können, ist es,  die Dinge von Grund auf und Schritt für Schritt aufzubauen“, erklärt Ursula Klingmüller, „und das braucht Zeit.“ Die dynamische Modellierung sei jetzt so weit, dass man sie mit anderen Modellierungsansätzen verknüpfen kann. „Wir fragen uns, ob  es ein Limit gibt“, beschreibt Ursula Klingmüller diese neue Herausforderung, denn die resultierenden Modelle sind sehr groß. Ein neues Massenspektrometer trägt neuerdings in der Klingmüller-Gruppe dazu bei, noch mehr Komponenten sehr genau zu quantifizieren und wird damit den Wünschen der Modellierer gerecht. Die Messung biologischer Phänomene auf unterschiedlichen Zeitskalen – die Signalweitergabe ist nach wenigen Minuten messbar, Zellteilung erst nach vielen Stunden oder Tagen – gestaltet sich hingegen weiterhin als Herausforderung.

Beide Forscher denken, dass die Systembiologie in Zukunft eine breitere Anwendung in der Grundlagenforschung, aber auch in der Klinik finden wird. Die Offenheit gegenüber diesem inter- disziplinären Ansatz, der sich nicht mehr nur mit einem Molekül beschäftigt, wird weiterhin zunehmen, denn die Vorteile sind ersichtlich: Nicht nur systembiologische Methoden werden weiter- entwickelt. Aus ganz spezifischen Fragen der Biologen wurden zudem Anforderungen an die mathematische Modellierung abstrahiert, deren Lösung zu Fortschritten in der Theorie führte. Umgekehrt werden mathematische Methoden, die aufgrund ihrer quantitativen Vorhersagen wichtige Einsichten in der Physik ermöglichten, auch erfolgversprechend in der Biologie eingesetzt. In jedem Fall hat die gegenseitige Stimulation beide Arbeitsgruppen viel weiter gebracht, als wenn jeder in seinem stillen Kämmerlein geforscht hätte.

Wissenschaft und Familie

Die gute Organisation, die die enge Kooperation über die Distanz Heidelberg-Freiburg hinweg erfordert, findet sich auch im Familienleben der beiden Wissenschaftler wieder. Zwei Abende pro Woche hat Jens Timmer für seine Tochter reserviert, und er ist nicht mehr so viel auf Reisen wie früher. Sicherlich brauchen die Partner viel Geduld, aber der Professorenalltag erlaubt es doch, sich flexibel auf spontane Termine der Kinder einzustellen. Gemeinsame Wochenendaktivitäten mit der Familie und das ein oder andere Konzert – für viel mehr ist keine Zeit neben der Wissenschaft. Zudem setzt sich Ursula Klingmüller am DKFZ für Frauen in Führungspositionen ein: „Hier kann noch viel getan werden, aber wir sind durch die DKFZ Executive Women’s Initiative untereinander vernetzt“, berichtet sie von ihrem Engagement. Immerhin konnten schon weitere Frauen rekrutiert werden – und wie für die Anerkennung der Systembiologie, muss man auch für diesen Prozess Geduld haben.

Entspannung sucht die Forscherin übrigens am liebsten beim Gang durch ihr Labor und in unmittelbaren Gesprächen zu neuen Ergebnissen mit ihren Mitarbeitern direkt an der Bench. Und auch Jens Timmer entspannt sich am meisten, wenn er in Ruhe arbeiten darf.

 

Referenzen:
Bachmann, J., Raue, A., Schilling, M., Böhm, M.E., Kreutz, C., Kaschek, D., Busch, H., Gretz, N., Lehmann, W.D., Timmer, J., and Klingmüller,U. (2011). Division of labor by dual feedback regulators controls JAK2/STAT5 signaling over broad ligand range. Mol. Syst. Biol. 7. Becker, V., Schilling, M., Bachmann, J., Baumann, U., Raue, A., Maiwald, T., Timmer, J., and Klingmüller, U. (2010). Covering a Broad Dynamic Range: Information Processing at the Erythropoi- etin Receptor. Science 328, 1404–1408.

Schilling, M., Maiwald, T., Hengl, S., Winter, D., Kreutz, C., Kolch, W., Lehmann, W.D., Timmer, J., and Klingmüller, U. (2009). The- oretical and experimental analysis links isoform – specific ERK signalling to cell fate decisions. Mol. Syst. Biol. 5.
Swameye, I., Müller, T.G., Timmer, J., Sandra, O., and Klingmüller,
U. (2003). Identification of nucleocytoplasmic cycling as a remote sensor in cellular signaling by databased modeling. Proc. Natl. Acad. Sci. 100, 1028–1033.

Kontakt

Prof. Dr. Ursula Klingmüller
Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg
u.klingmueller@dkfz.de
www.dkfz.de

Prof. Dr. Jens Timmer
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
jeti@fdm.uni-freiburg.de
webber.physik.uni-freiburg.de/~jeti/