Sind Computer bald die besseren Ärzte? „Nein, aber sie sind viel schneller“, sagt Ulf Leser im Interview mit systembiologie.de. Der Bioinformatiker entwickelt lernfähige Suchmaschinen, die Ärzten umfangreiche Literaturrecherchen abnehmen können – und somit helfen, wertvolle Zeit zu sparen. Seine Forschungsarbeit wird im Rahmen der Fördermaßnahme „i:DSem″ unterstützt.

systembiologie.de: Die Künstliche Intelligenz hat uns mittlerweile auf einigen Gebieten eingeholt oder sogar schon abgehängt. Computer können besser Schach spielen und sollen bald auch besser Auto fahren. Sind sie künftig auch die besseren Ärzte?

Ulf Leser: Nein, Computer können Ärzten nur die Entscheidungsfindung erleichtern. Sie können ihnen aber nicht die Entscheidung abnehmen. Ein Arzt muss sehr viele Aspekte berücksichtigen, wenn er einen Patienten behandelt. Er muss die Krankengeschichte kennen, seinem Gegenüber zuhören, mit ihm reden: Nur so erhält er einen Gesamteindruck. Dass Algorithmen hier auch nur annähernd das erreichen, was ein guter Arzt kann, liegt noch in ferner Zukunft.

Sie selbst entwickeln intelligente, lernfähige Suchmaschinen, die den Arzt bei der Wahl der richtigen Krebstherapie unterstützen sollen. Warum ist die Entwicklung einer solchen Software nötig?

Bei den meisten Tumorerkrankungen gibt es klare Richtlinien für ihre Behandlung. Aber für seltene Tumore oder bei komplexen Therapie- und Erkrankungsverläufen fehlen klare Handlungsempfehlungen, da es bundesweit nur wenige vergleichbare Fälle gibt und daher große vergleichende Studien kaum möglich sind. Hier sind die Ärzte auf umfangreiche Literaturrecherchen angewiesen, um eine Verbindung zwischen den molekularen Charakteristika eines Patienten und möglichen Therapien herzustellen. Unsere Suchmaschine hilft, dabei wertvolle Zeit zu sparen und das Suchergebnis zu verbessern.

"Unsere Suchmaschine hilft, die wichtigen Artikel schneller zu finden"

Kann ein Spezialist die Literatur seines Fachgebietes nicht besser durchsuchen?

Einen einzelnen Artikel kann er besser einschätzen, aber es gibt nun mal hunderttausende potentiell relevante Artikel. Jede Woche kommen ein paar Tausend hinzu. Unsere Suchmaschine hilft dem Onkologen, die wichtigen Artikel viel schneller zu finden.

Wie funktioniert das genau?

Wir kombinieren zwei Techniken, nämlich maschinelles Lernen und maschinelle Sprachverarbeitung. Zuerst wählen wir Texte aus, die für die Behandlung bestimmter Krebspatienten relevant sind. Vereinfacht ausgedrückt, lernt der Computer dann anhand dieser Dokumente, welche Wörter in klinisch relevanten Artikeln besonders häufig vorkommen und in welchen Kombinationen. Dieses Wissen kann er dann anwenden, um neue Dokumente bezüglich ihrer Wichtigkeit einzuschätzen.

Haben Sie ein konkretes Beispiel dafür?

In unserem Fall geht es um bestimmte Tumore und genetische Mutationen. Die Suchmaschine kann zu den Mutationen im Genom eines spezifischen Patienten zunächst alle Artikel finden, in denen diese Genmutationen vorkommen. Dann sortiert der Algorithmus sie bezüglich ihrer klinischen Relevanz. Somit kann die Software aus der Vielzahl medizinischer Publikationen gezielt diejenigen herausfiltern, die in einem spezifischen Krankheitsfall Hinweise für eine mögliche Therapie geben können.

Die Artikel werden also bezüglich ihrer Relevanz gerankt und dem Arzt präsentiert. Aber lesen muss er sie dann doch noch selbst, um eine Therapieentscheidung zu treffen.

Ja, wir gehen aber noch einen Schritt weiter. Unsere Software analysiert die Dokumente auch automatisch dahingehend, welche konkreten Medikamente oder Therapien in Kombination mit bestimmten genetischen Mutationen und Krankheiten erwähnt werden. Und diese Informationen erhält der Arzt zusätzlich. So bekommt er einen schnellen Überblick – und kann schneller entscheiden, ob sich ein Lesen des gesamten Textes lohnt.

"KI ist überall dort gut, wo es sehr große Datenmengen gibt"

Wie hat man sich das in der Klinik vorzustellen?

Die großen Universitätskliniken in Deutschland setzen in schwierigen onkologischen Fällen zunehmend sogenannte molekulare Tumorboards ein. Darin besprechen mehrere Ärzte gemeinsam mit Wissenschaftlern diese Fälle. Für die Vorbereitung der Meetings müssen die Mediziner bisher stundenlang Literatur durchforsten. Und das wollen wir deutlich beschleunigen.

Gibt es schon Klinken, die Ihr System erproben?

Wir kooperieren derzeit mit der Charité in Berlin und der Universitätsklinik Tübingen. Noch sind unsere Suchmaschinen nicht im Routineeinsatz. Ich halte es aber für realistisch, dass wir in zwei Jahren soweit sind. Im Idealfall könnte es künftig so aussehen, dass der Arzt alle individuellen Patientendaten in die Suchmaschine einspeist und diese dann eine sortierte Liste von Therapiemöglichkeiten ausspuckt.

Welche weiteren Möglichkeiten gibt es, KI in der Medizin zu verwenden?

KI ist überall dort gut, wo es sehr große Datenmengen gibt, die schon von Experten beurteilt wurden. Die größten Erfolge werden derzeit in der automatischen Bilderkennung erzielt, etwa bei der Analyse von Röntgenbildern oder MRT-Aufnahmen. Noch sind der Künstlichen Intelligenz in der Medizin jedoch auch deutliche Grenzen gesetzt.

Wo sehen Sie diese Grenzen?

Ein Computer kann auch nicht zaubern. Er kann nur aus Daten lernen, mit denen er gefüttert wird. Und wenn es zu wenige Daten gibt, kann er eben auch nicht lernen. Im Schachspielen sind die Computer inzwischen so gut, weil sie unendlich viele Daten selber erzeugen können: Um zu lernen, spielen sie einfach gegen sich selbst. Bei Tumoren ist das völlig anders. Wir können nicht hunderttausende Kunstmenschen mit einer Tumorerkrankung simulieren und dann hundert Milliarden Mal deren Leben unter Einfluss verschiedener Therapien simulieren, um zu schauen, was dann passiert. Es gibt in ganz vielen Bereichen einfach zu wenige Daten, um mit der aktuellen Technologie KI-basierte Vorhersagen mit hoher Genauigkeit zu ermöglichen.

Das Interview führten Gesa Terstiege und Melanie Bergs.