Die Nachhaltige

Dagmar Waltemath steht mit ihrer Arbeitsgruppe vor einem Gebäude

Dagmar Walthemath mit ihrer Arbeitsgruppe am Lehrstuhl für Systembiologie und Bioinformatik an der Universität Rostock. (Quelle ITMZ Universität Rostock)

Dagmar Waltemath und die Wiederverwertbarkeit der Zahlen

Von Claudia Eberhard-Metzger

Dagmar Waltemath führt durch die Räume des Lehrstuhls für Systembiologie und Bioinformatik der Universität Rostock. Viel Überraschendes zu sehen gibt es dort nicht: Schreibtische, Computerbildschirme, Poster, Wandtafeln mit Zahlen und Formeln. Was auch sonst sollte man bei einer Informatikerin erwarten. Im Gemeinschaftsraum bleibt die junge Wissenschaftlerin vor einer Regalwand stehen. „Unsere Bibliothek“, sagt sie, greift in die Reihen fachwissenschaftlicher Bände mit Mathematik und Computersprachen und zieht den Band „Das Treffen in Telgte“ von Günther Grass hervor.

„Den habe ich hineingestellt“, sagt Dagmar Waltemath. Wer möchte, kann sich das Buch mitnehmen. Sie hat es gelesen und reicht es jetzt weiter. „Man gibt Bücher weg – und bekommt andere dafür zurück“, erklärt sie. Der kreative Einfall ihres Chefs, Professor Olaf Wolkenhauer, hat mittlerweile nicht nur im Rostocker Lehrstuhl für Systembiologie und Bioinformatik, sondern auch bei Waltemaths zu Hause ein kleines Büchertauschsystem in Gang gesetzt. Vom organisierten Verfügbarmachen und Wieder-verwenden können jetzt viele Literatur-Interessierte profitieren.

Das, was Dagmar Waltemath privat mit ihren Büchern macht, macht sie ganz ähnlich auch in ihrem Beruf: Sie verwaltet Daten und Modelle biowissenschaftlicher Forschung, sodass sie für viele Interessenten leicht zugänglich, wieder verwendbar und nutzbar sind. Dazu entwickelt die Informatikerin gemeinsam mit ihren Mitarbeitern informatische Methoden, die Forschern aus den Lebenswissenschaften helfen, Simulationsexperimente zu reproduzieren. Das übergreifende Ziel ist, durch die Auswertung von Informationen in den Gleichungen, Parametern und Annotationen der Simulationsmodelle den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu beschleunigen. All das verbirgt sich hinter dem Namen „Simulation Experiment Management for Systems Biology“ oder kurz SEMS – der vom BMBF geförderten Nachwuchsgruppe, die Dagmar Waltemath seit dem Jahr 2012 leitet. Olaf Wolkenhauer hat sie in der Endphase ihrer Promotion auf die Idee gebracht, sich auf die Ausschreibung des e:Bio-Programms zu bewerben.

Sie sei ein eher nachhaltiger Mensch, beschreibt die 32-Jährige sich selbst, „privat wie beruflich.“ Mehr als unablässig neue Erkenntnisse und Daten zu generieren sei ihr daran gelegen, vorhandenes Wissen zu bewahren, intelligent aufzubereiten und zu präsentieren und so seine Wiederverwertbarkeit zu erhöhen. Das ist das Ziel ihrer Arbeitsgruppe – und gleichsam nebenbei dann eben doch ein äußerst viel versprechender Weg, Neues zu entdecken. Dagmar Waltemath bedient sich zur Erreichung dieser Ziele vor allem Methoden aus dem Forschungsgebiet der Datenbank- und Informationssysteme – ihrem Spezialisierungsgebiet: Graph-Datenbanken, Information Retrieval, semantische Suche, XML Versionierung, Datenrepräsentation in XML-basierten Standardformaten.

Bessere Experimentverwaltung in der Modellierung

Ein wichtiges Ziel ihrer Arbeiten sei, erklärt Dagmar Waltemath, die bessere Experimentverwaltung in der Modellierung. Hierzu entwickelt sie seit ihrem Forschungsaufenthalt am European Bioinformatics Institute (EMBL-EBI) in Cambridge (England) gemeinsam mit Kollegen einen Standard zur Speicherung von Experimentbeschreibungen, die Simulation Experiment Description Markup Language (SED-ML, Waltemath et al., 2011). Standardisierung ist eine zeitaufwändige, aber dringend notwendige Arbeit, um Wissen langfristig verfügbar und Computer-auswertbar zu machen. Gemeinsam mit vier Kollegen aus Heidelberg, Cambridge (England), Oxford und Auckland koordiniert Dagmar Waltemath als Editorin den Fortschritt im SED-ML Projekt.

Ein Beispiel für die im Rahmen des SEMS-Projektes verwalteten Simulationsmodelle sind die Ereignisse, die den Zellzyklus – den Ablauf von einer Zellteilung zur anderen – steuern oder alle Gene, Proteine und sonstigen Einflussgrößen, die in einem biochemischen Netzwerk der Zelle arbeiten. Bioinformatische Methoden zu finden, mit denen unterschiedliche Modelle, die zu einer biologischen Fragestellung bereits existieren, leicht aufgefunden und miteinander verglichen werden können, ist ein Teil der Forschungsarbeit von Dagmar Waltemath. Ihr Doktorand Martin Scharm arbeitet hierzu seit vergangenem Jahr an einem Werkzeug, welches Forscher in der Verwaltung ihrer Modellversionen unterstützt (Waltemath et al., 2013). Der zweite Teil ist zu überlegen, wie Modellierer wichtige Informationen für ihre jeweilige Aufgabenstellung jederzeit abrufen können. Ein erster Erfolg ist das gemein-sam mit dem von ihr betreuten Doktoranden Ron Henkel entwickelte Konzept zum Ranked Retrieval (Henkel et al., 2010; Henkel et al., 2012) – eine Information-Retrieval-basierte Suchmethode, welche mittlerweile von zwei führenden Modelldatenbanken, der BioModels Database und dem Physiome Model Repository als alternative Suchmethode unterstützt wird.

Reproduzierbarkeit als Garant für hochwertige Forschung

Das Ziel von Dagmar Waltemaths Arbeitsgruppe ist, die verschiedenen Teilprojekte zur Versionierung, Suche und Simulationsexperimentbeschreibung in einigen Jahren zusammenzuführen und ihren Kollegen in den Lebenswissenschaften eine Gesamtschau in „computerlesbarer Form anzubieten, die sie problemlos verstehen können und die ihnen bei ihren Arbeiten effektiv weiterhilft“. Ein wichtiger Aspekt des computergenerierten Verfügbarmachens von Informationen, ergänzt Waltemath, sei die Reproduzierbarkeit der Simulationsexperimente. Die Reproduzierbarkeit, ein genereller Anspruch an die Wissenschaft, ist auch in der computergestützten Biologie der Garant für hochwertige Forschung. Um die Informatik den komplexen Bedürfnissen der Biologie maximal anzunähern, muss sich Dagmar Waltemath intensiv zu biologischen Themen mit ihren Kooperationspartnern im In- und Ausland auseinandersetzen. Das macht ihr viel Freude: „Ich habe es mir nie vorstellen können, als theoretische Informatikerin jeden Tag einsam vor meinem Rechner zu sitzen.“

Zur Informatik, der Wissenschaft vom systematischen Verarbeiten von Informationen, sei sie über das Schachspielen gekommen, erzählt Dagmar Waltemath. Ihr Großvater hat ihr das beigebracht. Mit elf Jahren trat sie in den örtlichen Schachverein ein, spielte in der Jugendbundesliga und engagierte sich als Jugendtrainerin. Unter den Schachspielern seien immer viele Informatiker und Mathematiker gewesen; der persönliche Kontakt und gemeinsame Interessen hätten ihr die Informatik nahegebracht. Das Studium begann sie – in Kombination mit Anglistik – im Jahr 1999 in Rostock, der Stadt, die sie schon seit Jugendtagen kennt und in die sie trotz vieler attraktiver Studienaufenthalte im Ausland immer wie-der gern zurückgekehrt ist. 14 Jahre lebt sie nun schon in Rostock, mittlerweile mit Mann und ihren beiden kleinen Söhnen Hans und Emil – und fühlt sich an der Ostsee sehr wohl.

„Ein kleiner Fehler hat mir eine tolle, unbekannte Welt eröffnet“

Stipendien haben sie nach England, nach Norwegen, Schweden und Thailand geführt. Ihren wichtigsten Aufenthalt aber habe sie am „European Bioinformatics Institute“ (EMBL-EBI) in Cambridge, England, verbracht, wo auch ihr Mentor Nicolas Le Novère arbeitet. Zum ersten Mal kam sie 2007 als Marie-Curie Stipendiatin in die Computational Neuroscience Gruppe des Systembiologen und wissenschaftlichen Vorbilds. Die meisten ihrer heutigen Kontakte, sagt Dagmar Waltemath, sind in dieser Zeit entstanden. Den Zugang zur Standardisierungs-Community der Informatik hat sie sich selbst über eine E-Mail eröffnet, die sie an Mike Hucka, den Mit(be)gründer des Modellbeschreibungsprache SBML, richtete. „Ohne mir so richtig bewusst zu sein, wer das überhaupt ist“. Sie hatte einen Fehler in SBML entdeckt und wollte ihn darauf aufmerksam machen. Daraufhin wurde sie von Dr. Hucka zu einem der SBML-Treffen eingeladen, sprach vor genau den Forschern, deren Arbeiten sie in ihrer damaligen Diplomarbeit zu Standardformaten und Simulationsmodellen zitiert hatte und erhielt das Angebot für ein Praktikum im EMBL-EBI bei Dr. Nicolas Le Novère. Auch heute noch arbeitet sie mit den dortigen Wissenschaftlern eng zusammen. Die mittlerweile etablierten, jährlichen Treffen zu Fragen der Standardisierung, COMBINE und HARMONY, sind in ihrem Kalender fest eingeplant. „Ein kleiner Fehler“, sagt Dagmar Waltemath, „hat mir eine tolle, zuvor gänzlich unbekannte Welt eröffnet“. Im Jahr 2015 wird sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Prof. Falk Schreiber vom IPK Gatersleben sogar selbst das HARMONY in Deutschland ausrichten.

Die junge Forscherin möchte später einmal als Professorin arbeiten, weil sie die Kombination aus Forschung und Lehre schätzt, weil Universitäten ein unabhängiges Arbeiten erlauben und Freiräume für kreative Ideen bieten. Den Namen für ihren künftigen Lehrstuhl weiß sie schon: „Datenmanagement für die computergestützte Biologie und Medizin“. Auch das womöglich wichtigste Forschungszubehör kann sie bereits benennen: eine Kaffeemaschine. Der Raum, wo der Kaffee gebrüht werde, sei „erwiesenermaßen der am meisten frequentierte Ort für den intensiven persönlichen Ideenaustausch und ein Quell der Kreativität“. Die medizinischen Fragestellungen hat sie erst in jüngerer Zeit für sich entdeckt. Sie interessieren Dagmar Waltemath sehr, „weil sie so griffig sind und einen hohen Anwendungsaspekt haben“. In der Systemmedizin spielt das computergestützte Sammeln, Zusammenführen, Sortieren, Ordnen und Analysieren unterschiedlichster Daten eine große Rolle, so dass die von Dagmar Waltemath entwickelten Methoden und Werkzeuge dort Anwendung finden können.

Mit kleinen Schritten Systeme nachhaltig verbessern

Dagmar Waltemath ist nicht nur eine sehr gute und engagierte Wissenschaftlerin. Sie setzt sich auch für gesellschaftliche Belange ein, etwa als Gleichstellungsbeauftragte in der Universität oder indem sie sich für die Initiative „Arbeiterkind.de“ stark macht, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Anteil von Arbeiterkindern an den Hochschulen zu erhöhen und sie auf dem Weg zum Studienabschluss zu unterstützen. Dagmar Waltemath sagt, dass es auch für sie nicht selbstverständlich war zu studieren. „Meine Lehrerin musste meine Eltern erst davon überzeugen, dass ich auf eine höhere Schule gehen solle“.

Die selbst ist der Meinung, dass kleine intelligente Schritte geeignet sind, Systeme nachhaltig zu verbessern. Das gelte für die Bioinformatik ebenso wie für die Gesellschaft. Man nehme etwa die vieldiskutierte Frage, wie Familie und Beruf besser zu vereinbaren seien. Als Beispiel dafür, wie kleine Veränderungen spürbare qualitative Effekte herbeiführen können, nennt Dagmar Waltemath die ICSB, eine wichtige Systembiologie-Konferenz, die im Jahr 2011 in Mannheim ausgerichtet wurde. Sie war eingeladen, um einen Vortrag zu halten. Ihr zweiter Sohn war damals sechs Monate alt, und sie konnte ihn zum Kongress mitnehmen, weil die Organisatoren eine Kinderbetreuung eingerichtet hatten. Dort wusste sie ihren Sohn gut aufgehoben, während sie vor dem Auditorium sprach. Leider sei so ein Angebot noch immer die große Ausnahme. Dagmar Waltemath ist es wichtig, dieses Beispiel publik zu machen. Es zeige, dass mit vergleichsweise geringem Aufwand sehr viel gewonnen werden kann – man müsse nur ein wenig darüber nachdenken, was der Andere braucht.

 

Referenzen:
Henkel et al. (2010) Ranked Retrieval of Computational Biology Models, BMC Bioinformatics 11:423
Henkel R, Le Novère N, Wolkenhauer O, Waltemath D (2012). Con-siderations of graph-based concepts to manage computational biology models and associated simulations. Proceedings of the 2012 INFORMATIK conference, Jahrestagung der Gesellschaft für Informatik e.V. (GI) BRAUNSCHWEIG, 16.-21.09.2012
Waltemath et al. (2013) Improving the reuse of computational models through version control. Bioinformatics 29.6 : 742-748.
Waltemath et al. (2011) Reproducible computational biology ex-periments with SED-ML – The Simulation Experiment Description Markup Language. BMC Systems Biology 5:198
Waltemath et al. (2011) Minimum Information About a Simulati-on Experiment (MIASE). PLoS Computational Biology 7: 4 Courtot et al. (2011) Controlled vocabularies and semantics in systems biology. Nature Molecular Systems Biology 7: 543

Kontakt

Dr. Dagmar Waltemath
Universität Rostock
dagmar.waltemath@uni-rostock.de
www.sems.uni-rostock.de