Das deutsche Netzwerk für Bioinformatik Infrastruktur (de.NBI) feiert sein 5-jähriges Bestehen. Der Bioinformatiker Alexander Goesmann erklärt im Interview, was seine Arbeit ausmacht und warum Bioinformatik inzwischen eine eigene Disziplin ist.

Systembiologie.de: Spätestens seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms sind Methoden der Informatik ein fester Bestandteil der Biologie geworden. Ist die Bioinformatik das Schweizer Taschenmesser der Lebenswissenschaften?

Alexander Goesmann: Das wäre zu kurz gegriffen, ist aber ein interessanter Vergleich. Experimentell arbeitende Forscherinnen und Forscher schicken uns ihre Rohdaten, und wir liefern dann interpretierbare Ergebnisse. So gesehen ist die Bioinformatik ein nützliches Werkzeug zur Auswertung großer Datenmengen. Darüber hinaus hat sich die Bioinformatik in den letzten 20 Jahren allerdings stark entwickelt und ist zu einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin mit zahlreichen Spezialisierungen geworden. Neben Datenauswertung und Visualisierung geht es darum, mit Methoden aus Mathematik und Informatik völlig neue Lösungswege zu finden.

Wie wichtig sind biologische Kenntnisse in diesem Prozess?

Die biologischen Kenntnisse sind ebenso wichtig wie die theoretischen und technischen Disziplinen – es ist und bleibt ein sehr interdisziplinäres Fachgebiet. Man muss verstehen, wie biologische Systeme funktionieren und wie experimentelle Daten generiert werden, um passgenaue Werkzeuge zu entwickeln und die Programme richtig anzuwenden. Nur so kann am Ende eine Lösung stehen, die einen echten Mehrwert schafft.

Wie sieht dieser Mehrwert konkret aus?

Ein aktuelles Beispiel ist das Corona-Virus, das sich gerade weltweit verbreitet. Das Erbgut von Viren und Bakterien verändert sich ständig. Mithilfe von bioinformatischen Analysen kann man feststellen, wo das Virus zuerst aufgetreten ist und wie es sich von dort verbreitet hat. Veränderungen im Erbgut der Viren können außerdem auf eine Anpassung an veränderte Umweltbedingungen oder andere Wirte hindeuten. Auch beim aktuellen Virus wird vermutet, dass es seinen Ursprung in Wildtieren hat. Ein anderes Beispiel ist das Auftreten und die Verbreitung von Antibiotika-Resistenzen bei Bakterien.

Zielgerichtete Behandlung durch Bioinformatik

Bioinformatik ist also viel Detektivarbeit.

Ja, wir gehen allerdings noch einen Schritt weiter. Im Klinikalltag werden bioinformatische Analysen zukünftig Ärztinnen und Ärzte konkret bei der Behandlung unterstützen. Wenn sie vorher wissen, ob bestimmte Medikamente wirken oder eben nicht, können sie den Patientinnen und Patienten ein kräftezehrendes Durchprobieren ersparen und sie stattdessen zielgerichtet mit dem richtigen Medikament etwa einem passenden Antibiotikum behandeln. Leider wird es immer schwieriger, wirksame Antibiotika zu finden, die bei schwerwiegenden bakteriellen Infektionen noch eingesetzt werden können. In den letzten Jahren sind kaum neue Antibiotika entwickelt worden und Resistenzen haben sich immer weiterverbreitet.

Werden demnächst alle verfügbaren Antibiotika wirkungslos sein?

Das will ich nicht hoffen. Mit neuen Methoden versuchen wir tiefer zu schauen – auf die Ebene des Erbguts und der Regulation, also die Aktivierung und Deaktivierung zellulärer Vorgänge. Dort suchen wir nach Zielen für alternative Behandlungswege und die Entwicklung neuer Medikamente. Wenn man die Abwehrmechanismen der Bakterien besser versteht, kann man Angriffspunkte für neue Antibiotika finden.

Wie sieht ihre Arbeit konkret aus?

In vielen Fällen erhalten wir die experimentellen Rohdaten und versuchen dann besonders interessante, funktionstragende Elemente im Erbgut aufzuspüren. Bei den Bakterien suchen wir etwa nach Genen, die eine Antibiotika-Resistenz vermitteln. Mit unserer Softwareplattform läuft diese bioinformatische Verarbeitung vollkommen automatisch ab. Am Ende steht dann eine interaktive Visualisierung. Medizinische Mikrobiologinnen und Mikrobiologen können dann auf einen Blick sehen, welche Resistenzen die Bakterien tragen, und welche Eigenschaften des Keims für seine Ausbreitung und damit auch für seine Eindämmung relevant sein könnten.

Das BMBF fördert seit fünf Jahren das deutsche Netzwerk für Bioinformatik-Infrastruktur (de.NBI). Was hat sich dadurch für die Forschung verändert?

Kein Forscher möchte das Rad fünfmal neu erfinden, sondern möglichst zielgerichtet qualitativ hochwertige Analysen durchführen. Der Schwerpunkt des Netzwerks liegt damit eindeutig im Servicebereich. Die Nutzerinnen und Nutzer können mittlerweile über 100 bioinformatische Werkzeuge kostenfrei herunterladen oder online verwenden und in individualisierten Trainingskursen deren Benutzung erlernen. Mit der Cloud des Netzwerks können sie außerdem kostenfrei auf mehreren hundert Rechnern parallel arbeiten und damit die Zeit bis zur Auswertung deutlich verkürzen. Gerade bei der heutigen Forschungsarbeit mit immer größeren Datensätzen ist es wichtig, die Ergebnisse schnell zu bekommen. Außerdem können in der Cloud die enormen Datenmengen gespeichert werden und von Forschungsteams an unterschiedlichen Orten gemeinsam genutzt werden.

Das menschliche Genom ausgedruckt wäre ein Stapel höher als die Siegessäule

Sind diese Datenmengen für den Menschen noch greifbar?

Erst kürzlich habe ich gemeinsam mit Studierenden ausgerechnet, wie hoch der Stapel wäre, wenn man das menschliche Genom auf DinA4-Seiten ausdrucken würde. Das Ergebnis war eine Höhe von knapp 74 Metern. Das ist höher als die Siegessäule in Berlin. Die Herausforderung ist allerdings nicht allein die Datenmenge. Es nützt nichts, wenn ich alle Buchstaben kenne, aber den Text nicht lesen und verstehen kann. Für die Interpretation der Daten brauchen wir bioinformatische Programme, wie sie das Netzwerk zur Verfügung stellt.

Wird das Netzwerk von der Wissenschafts-Community gut angenommen?

Ja. Im gesamten Netzwerk erhalten wir mittlerweile fast eine halbe Million Anfragen pro Monat. Bei schwierigen Problemen bieten wir darüber hinaus auch enge wissenschaftliche Kooperationen an. Die deutschlandweit verteilten Service- und Leistungszentren decken mittlerweile ein sehr breites Themenspektrum ab. Und wenn es noch keine Lösung gibt, suchen wir gemeinsam nach neuen Ansätzen. Ich denke, dass man das Netzwerk mit seinen verschiedenen Service-Leistungen und Expertisen also durchaus als Schweizer Taschenmesser der Lebenswissenschaften bezeichnen könnte.

Das Gespräch führte Gesa Terstiege.