Den Prozessen des Lebens auf der Spur

Jeder biologische Prozess ist ein komplexes Zusammenspiel vieler einzelner Komponenten, die sich gegenseitig beeinflussen. Ob es um die Entwicklung von der Eizelle zum fertigen Organismus oder die Entstehung von Krankheiten geht, stets muss man die Akteure nicht nur identifizieren, sondern auch in ihrer Wechselwirkung untereinander verstehen. Die klassischen qualitativen Methoden der Biologie stoßen hier schnell an ihre Grenzen. Sie können zwar die einzelnen Bausteine des Lebens beschreiben, aber nicht die zugrundeliegenden Prozesse.

Zudem hat die rasante Entwicklung neuer Technologien zu einer Fülle von Daten über biologische Systeme geführt, die ohne die Hilfe von leistungsfähigen Computern nicht mehr bewältigt werden kann. Allein zur Speicherung des Genoms eines einzelnen Menschen sind circa 1,3 Gigabyte nötig, das entspricht etwa dem Speicherplatz von zwei handelsüblichen CD-ROMs.

Interdisziplinarität maßgeblich für Systembiologie

Bei der Fülle und Komplexität der Informationen liegt es nahe, die biologische Forschung mit Methoden aus der Mathematik, Physik, Informatik und den Ingenieurwissenschaften zu verknüpfen und die Erfahrungen zur Lösung komplexer Fragestellungen in den Lebenswissenschaften zu nutzen. Dieser interdisziplinäre Forschungsansatz ist maßgeblich für die Systembiologie. Allerdings endet er nicht mit der Übertragung experimenteller Erkenntnisse in ein mathematisches Modell. In einem Wechselspiel aus Laborexperiment und Modell entstehen vielmehr immer neue Hypothesen, die dann durch erneute Experimente bzw. Modellvorhersagen verifiziert, verworfen oder verändert werden.

Die Systembiologie hat somit das Potential, die Lebenswissenschaften grundlegend zu verändern und völlig neue Erkenntnisse für die biomedizinische Forschung, insbesondere bei der Entwicklung neuer Medikamente, aber auch für die Biotechnologie in Industrie und Landwirtschaft, zu liefern.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat frühzeitig die Bedeutung der Systembiologie erkannt und bereits 2001 mit der Ausschreibung "Systeme des Lebens – Systembiologie" den Startschuss für den Aufbau dieses innovativen Forschungsfeldes gegeben.

Systembiologie für eine bessere Medizin

Die Medizin hat sich zum Hauptanwendungsfeld des systembiologischen Forschungsansatzes entwickelt - nicht zuletzt auch durch die gezielte Förderung des BMBF. Bereits im Jahr 2004 startete das Pilotprojekt HepatoSys, das sich den physiologischen Vorgängen in den Leberzellen (Hepatozyten) widmet. Die Leber ist als zentrales Stoffwechselorgan von besonderem Interesse für die biomedizinische Forschung. Aufbauend auf den Erkenntnissen auf der Zellebene hat im Jahr 2010 das Netzwerk Virtuelle Leber die Arbeit aufgenommen. Ziel ist es, die Physiologie, Morphologie und Funktion der menschlichen Leber modellhaft abzubilden. Ergebnisse dieser Projekte haben bereits zu entscheidenden neuen Erkenntnissen bei Stoffwechselerkrankungen, der Entstehung von Leberkrebs und dem Medikamentenabbau der Leber geführt.

Neben dem oben genannten Pilotprojekt wurden im Rahmen der Fördermaßnahme „Medizinische Systembiologie – MedSys“ die Ursachen verschiedener Erkrankungen wie Krebs, Multiple Sklerose und Diabetes erforscht. Weitere thematische Schwerpunkte werden mit GerontoSys - Systembiologie für die Gesundheit im Alter und CancerSys - Systembiologie in der Krebsforschung gesetzt.

Während diese Maßnahmen einen starken Fokus auf die Grundlagenforschung setzen, geht das aktuelle Forschungskonzept e:Med - Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin einen Schritt weiter: Es unterstützt den Transfer des systembiologischen Forschungsansatzes in die klinische Anwendung, um so den Mehrwert für den einzelnen Patienten zu demonstrieren. Der Weg zu einem routinefähigen Einsatz zeichnet sich schon in ersten Beispielen ab.

Forschungslandschaft in Deutschland gestalten

Um effektive systembiologische Forschung betreiben zu können, bedarf es einer geeigneten Infrastruktur. Im Rahmen der Hightech-Strategie des Bundesforschungsministeriums brachte der Förderschwerpunkt FORSYS (Forschungseinheiten der Systembiologie) die Etablierung der Systembiologie in Deutschland entscheidend voran. Der Aufbau der vier FORSYS-Zentren im Jahr 2007 an den Standorten Freiburg, Heidelberg, Magdeburg und Potsdam verbesserte die strukturellen und inhaltlichen Voraussetzungen für die Systembiologie. Sie schaffen neben der interdisziplinären Basis unter einem Dach auch Ausbildungsmöglichkeiten für junge Systembiologen. Mittlerweile werden an knapp 20 Universitäten in Deutschland Studiengänge mit dem Schwerpunkt Systembiologie angeboten.

Den methodisch und technologisch hohen Anforderungen des systembiologischen Forschungsansatzes haben sich in der Vergangenheit die Fördermaßnahmen QuantPro (2006) und SysTec (2009) gewidmet. Der Bedarf an neuen Entwicklungen ist damit aber keinesfalls gedeckt. Das stetig steigende Datenvolumen macht die Expansion von Rechen- und Speicherkapazitäten notwendig und eine international wettbewerbsfähige und standardkonforme  Nutzung dieser riesigen Datenmengen setzt die Verfügbarkeit von entsprechender Hardware, gepflegten Datenbanken und validen Werkzeugen der Bioinformatik voraus. Das BMBF trägt diesen Herausforderungen mit dem gezielten Aufbau eines Deutschen Netzwerks für Bioinformatik-Infrastruktur - de.NBI (2014) Rechnung, in dem die bisher aufgebauten Expertisen und Ressourcen auf diesem Gebiet gebündelt und koordiniert werden.

In dem thematisch breitangelegten Förderschwerpunkt e:Bio – Innovationswettbewerb Systembiologie (2011, 2012 & 2014) wurden die erfolgreichen Standbeine der bisherigen Systembiologie-Förderung noch einmal aufgegriffen und gebündelt. So soll der Forschungsstandort Deutschland im internationalen Vergleich gestärkt werden. Schwerpunkte wurden hierbei auf den Transfer in die praktische Anwendung sowie erneut auf die Förderung von wissenschaftlichem Nachwuchs gelegt, um den steigenden Bedarf in der Zukunft zu decken.

Position auf internationaler Ebene stärken

Die besonderen Stärken der Systembiologie kommen vor allem dann zum Tragen, wenn durch transnationale Kooperationen Synergieeffekte optimal genutzt werden können. Vor diesem Hintergrund hat das BMBF schon frühzeitig eine führende Rolle bei der Koordination der europaweiten Systembiologieforschung übernommen. Das Netzwerk ERASysBio hat ab 2006 den Weg für einen Austausch über die nationalen Grenzen hinweg geebnet. In der Folge wurden transnationale Fördermaßnahmen zur Systembiologie in Mikroorganismen (SysMo I & II, 2006 & 2009) und systembiologische Ansätze in der Biomedizin und anderen Innovationsfeldern (ERASysBio+ 2009) unterstützt.

Aktuell wird die weltweite Vernetzung deutscher Forscher in der anwendungsorientierten Systembiologie und der synthetischen Biologie im Rahmen der ERA-Net-Aktivitäten ERASysAPP und ERASynBio gefördert. Eine bilaterale Förderung mit Luxemburg findet derzeit im Bereich der Systemmedizin statt.

Das BMBF und weitere deutsche Partner arbeiten zudem im Rahmen des Konsortiums CASyM (Coordinating Action Systeme Medicine) engagiert an der Entwicklung einer „road map“ für die europaweite Implementierung der Systemmedizin. CASyM wird von der EU gefördert und bereitet den Weg für zukünftige transnationale Forschungsmaßnahmen in dem wichtigen Forschungsgebiet Systemmedizin.