Über 65 Millionen Menschen weltweit leiden an der unheilbaren Lungenerkrankung COPD. Ein Forschungsteam aus Marburg will die Betroffenen mit einem Maschinenlernverfahren besser klassifizieren und so eine maßgeschneiderte Behandlung ermöglichen.

von Katharina Kalhoff und Gesa Terstiege

Erste Symptome wie Husten und Atemnot beim Treppensteigen ignorieren die Betroffenen häufig; dabei ist die atemwegsverengende Lungenerkrankung COPD (chronic obstructive pulmonary disease) eine ernst zu nehmende Erkrankung. Unbehandelt entstehen irreparable Lungenschäden und die Krankheit verschlimmert sich stetig. Im späteren Verlauf haben viele Patientinnen und Patienten bereits Atemnot, wenn sie nur auf dem Sofa sitzen. Mit Medikamenten lassen sich die Symptome abmildern und eine Verschlimmerung zumindest verlangsamen. Bislang gibt es jedoch keine Methode, um den Krankheitsverlauf ganz aufzuhalten oder gar umzudrehen. Problematisch ist, dass die Erkrankung bei den Patientinnen und Patienten sehr unterschiedlich verläuft. Insbesondere weitere Beeinträchtigungen wie Diabetes oder Osteoporose spielen eine große Rolle. Je nach Begleiterkrankung und gesundheitlichem Zustand der Erkrankten sind daher jeweils andere Therapieansätze notwendig. Hier setzt das Team um den Marburger Lungenspezialisten Professor Dr. Bernd Schmeck an. Mit Hilfe von Methoden, die sich auf maschinelles Lernen stützen, wollen sie Patientinnen und Patienten besser klassifizieren und so eine personalisierte Behandlung ermöglichen. Dabei unterstützt sie das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Fördermaßnahme ERACoSysMed mit knapp 600.000 Euro.

Das Team um Schmeck verwendet Daten von mehreren Tausend Patientinnen und Patienten. Sein Marburger Kollege Professor Dr. Claus Vogelmeier konnte eine Studiengruppe mit Daten von über 2.700 Behandelten über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren aufbauen. Neben klinischen Daten zum Krankheitsverlauf erfassen die Medizinerinnen und Mediziner auch speziellere Daten aus Laboruntersuchungen, so etwa bestimmte Proteine und molekulare Marker, um noch mehr über die Erkrankung zu erfahren. „Bei der Fülle an Daten brauchen wir einen Ansatz mit künstlicher Intelligenz – für einen Menschen ist das ohne dieses Hilfsmittel nicht mehr erfassbar“, erklärt Schmeck.

Begleiterkrankungen im Blick behalten

Der Algorithmus lernt anhand Tausender Kombinationen aus Labordaten und Krankheitsverläufen, Übereinstimmungen bei verschiedenen Patientinnen und Patienten zu erkennen und Gruppen mit ähnlichen Symptomen und Verläufen zu bilden. Diese Ergebnisse wiederum vergleichen die Forscherinnen und Forscher im Rahmen einer europäischen Zusammenarbeit mit Daten aus einer Studiengruppe in den Niederlanden. Insbesondere wollen sie so herausfinden, welche Parameter und Daten für den Krankheitsverlauf relevant sind und welche nicht. Ihr Ziel ist es, die Patientinnen und Patienten möglichst früh einer Gruppe zuordnen zu können und so eine optimale Behandlung zu ermöglichen.

Gerade bei einer Erkrankung wie COPD, die vorwiegend Menschen ab dem 50. Lebensjahr trifft und häufig mit weiteren gesundheitlichen Problemen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Osteoporose oder auch psychischen Erkrankungen einhergeht, ist es wichtig, alle Aspekte im Blick zu behalten. Wenn Erkrankte in die Klinik kommen, zielt die Behandlung in der Regel auf das augenscheinlich größte Problem und konzentriert sich darauf, zunächst die Lungenfunktion zu verbessern. In einigen Fällen ist es jedoch notwendig, zuerst die Begleiterkrankung zu behandeln, um eine Verbesserung des Gesamtzustands zu erreichen: So ist es möglich, dass die Patientinnen und Patienten aufgrund von Osteoporose Schmerzen bei Bewegungen haben und deshalb weniger atmen. Auch hier erhofft sich das Team eine Unterstützung durch die neue Software. Nach Auswertung der vorliegenden Daten könnte das System beispielsweise eine Knochendichtemessung vorschlagen und die behandelnden Ärztinnen und Ärzte auf die genannte Problematik mit der Osteoporose aufmerksam machen.

Erste Tests der Software in einem Jahr

Damit ihre Software schnell den Weg in die Anwendung finden kann, kooperieren die Forscherinnen und Forscher bereits jetzt mit einer Firma, die Krankenhaussoftware entwickelt und einsetzt. Um im klinischen Alltag konkret Hilfestellung geben zu können, sollte die Software möglichst einfach, unkompliziert und ohne großen Zeitaufwand bedient werden können. Idealerweise sollte die Software im Rahmen der normalen Krankenhaus-IT installiert werden und auf die vorhandenen Patientendaten zugreifen, um den behandelnden Ärztinnen und Ärzten gleich vor Ort Vorschläge hinsichtlich Diagnostik und Therapie geben zu können. „Bereits in einem Jahr soll die Software für erste Tests in der Klinik eingesetzt werden“, so Schmeck. Langfristig soll es eine größer angelegte Testphase geben und dann auch eine Zulassung als Medizinprodukt erfolgen.

Die Unterteilung in Patientengruppen könnte neben der Unterstützung bei Therapieentscheidungen weitere Möglichkeiten bieten, etwa bei der Testung neuer Medikamente. Denn was einem Betroffenen hilft, führt beim nächsten mit anderen Begleitumständen noch lange nicht zu einer Besserung. Die Forscherinnen und Forscher erhoffen sich durch die Erkenntnisse der Software somit neben einem verbesserten Verständnis der Erkrankung auch neue Ansätze für die Entwicklung neuer Therapien.

 

Quelle: Newsletter „Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung" Nr. 101