Die körpereigene Abwehr ist die stärkste Waffe gegen Viren, aber wenn sie sich gegen gesunde Zellen wendet, besteht große Gefahr. Ein Forschungsteam aus Berlin untersucht mithilfe aufwendiger bioinformatischer Analysen die Rolle des Immunsystems.

von Gesa Terstiege

Für einen Großteil der mit dem neuen Corona-Virus Infizierten verläuft die Erkrankung nicht viel schlimmer als eine herkömmliche Erkältung. Sie haben milde Symptome und nach zwei Wochen sind die meisten wieder gesund. Bei einem kleineren Anteil von rund zehn bis 15 Prozent ist der Krankheitsverlauf jedoch dramatisch und es kann zu lebensbedrohlichen Komplikationen kommen. Was diese beiden Patientengruppen voneinander unterscheidet und welche Rolle das körpereigene Immunsystem dabei spielt, will das Forschungsteam um den Mathematiker Professor Roland Eils vom Berlin Institute of Health herausfinden. Dabei unterstützt sie das Bundesforschungsministerium im Rahmen des Deutschen Netzwerks für Bioinformatik de.NBI.

„Wir haben frühzeitig vermutet, dass das Immunsystem der Infizierten über den Verlauf der Krankheit entscheidet“, erklärt Eils. Um diesen Verdacht genauer zu untersuchen, haben die Forscherinnen und Forscher auf sogenannte Einzelzellanalysen gesetzt. Denn nicht nur jeder Mensch, sondern auch jede Zelle reagiert anders auf eine Infektion. Die Zellreaktion untersuchen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, indem sie sich die Regulation der einzelnen Gene ansehen. Mithilfe der Genregulation reagiert die Zelle auf äußere Einflüsse. So kann die Zelle etwa einzelne Gene verstärkt ablesen und dadurch mehr Rezeptoren für die Interaktion mit anderen Zellen bilden.

Die Analyse einzelner Zellen ist extrem aufwendig. Aus dem Nasen-Rachen-Abstrich der Testpersonen müssen die Forscherinnen und Forscher zunächst tausende Zelle isolieren. Für jede dieser Zellen wird dann die Aktivität tausender Gene bestimmt. Dabei kommen unvorstellbar große Datenmengen zusammen, die die Forscherinnen und Forscher nur noch mit sehr leistungsfähigen Computern und speziell entwickelten bioinformatischen Werkzeugen analysieren können.

Unheilvolle Allianz mit dem Virus

Mittlerweile ist bekannt, dass das neuartige Corona-Virus den sogenannten ACE-2-Rezeptor als Eingangspforte benutzt, um in die Zellen der Nasen- und Rachenschleimhaut einzudringen und diese zu infizieren. „Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass dieser Rezeptor nur in einem Bruchteil der Zellen überhaupt vorhanden ist“, erklärt Eils. Die Viren können also zunächst nur wenige Zellen infizieren. Das Forschungsteam wollte verstehen, warum das neuartige Coronavirus dennoch so effizient dabei ist, eine Erkrankung auszulösen. Sie haben sich daher auch den weiteren Krankheitsverlauf angesehen.

Die infizierten Zellen rufen nach dem Viruseintritt die körpereigne Abwehr zu Hilfe. Die Immunzellen schütten daraufhin einen bestimmten Faktor aus – das sogenannte Interferon Gamma. Neben einer verstärkten Immunreaktion führt dieser Faktor allerdings auch dazu, dass die Gewebezellen den ACE-2-Rezeptor vermehrt bilden. „Das Immunsystem geht hier eine unheilvolle Allianz mit dem Virus ein“, sagt Eils. Im Vergleich mit gesunden Testpersonen ist der ACE-2-Rezeptor bei Erkrankten zwei bis dreimal so oft vorhanden. Dadurch gibt es viel mehr Eingangspforten für das Virus in den Körper und im weiteren Krankheitsverlauf können die Viren so deutlich mehr Zellen infizieren.

Zerstörung gesunder Lungenzellen

Das ist allerdings nicht die einzige gefährliche Rolle des Immunsystems. Bei schwer erkrankten Patientinnen und Patienten konnte das Forschungsteam beobachten, dass es bei diesen zusätzlich zu einer überschießenden Entzündungsreaktion kommt. „Die Immunzellen zerstören dann nicht mehr nur infizierte Zellen, sondern auch gesunde Lungenzellen,“ sagt Eils. „Patientinnen und Patienten, bei denen es zu so einer überschießenden Reaktion des Immunsystems kommt, haben massive Atemwegsprobleme und müssen in der Regel künstlich beatmet werden“. Warum das Immunsystem bei einigen Menschen so heftig reagiert und die Krankheit – anstatt sie zu bekämpfen – am Ende sogar noch schlimmer macht, können die Forscherinnen und Forscher bislang noch nicht sagen. „Um das zu verstehen, brauchen wir deutlich mehr Daten“, so Eils.

Das bessere Verständnis der überschießenden Immunantwort bei schweren Krankheitsverläufen bietet jedoch schon jetzt einige interessante Behandlungsansätze. „Noch sind es Hypothesen, aber es wäre naheliegend, die Interaktion zwischen den Gewebe- und Immunzellen gezielt zu stören“, erklärt Eils. Die Medikamente, die das Forschungsteams dafür vorschlägt, sind teilweise schon im Zulassungsprozess oder bereits für andere virale Erkrankungen zugelassen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben ihre Forschungsergebnisse bewusst so veröffentlicht, dass die Daten weltweit und kostenfrei zur Verfügung stehen. Das Forschungsteam hofft, dass klinische Partner auch aus anderen Ländern ihre Ergebnisse aufgreifen werden und sie zu einer effizienten Behandlung der schweren Krankheitsverläufe beitragen können.