Die chronische myeloische Leukämie (CML) ist gut behandelbar, aber mit einer langen und oft belastenden Therapie verbunden. Forschende aus Dresden entwickeln ein Computermodell zur Vorhersage, wann die Medikamente reduzier- oder sogar absetzbar sind.

von Katharina Kalhoff und Gesa Terstiege

Die Behandlung der chronischen myeloischen Leukämie (CML) hat in den vergangenen 20 Jahren eine sehr positive Entwicklung genommen. Noch vor wenigen Jahrzehnten überlebten nur wenige Betroffene die Erkrankung. Heutzutage liegt die Überlebensrate nach fünf Jahren bei über 90 Prozent und viele Patientinnen und Patienten können auf eine normale Lebenserwartung hoffen. Eine Heilung ist jedoch weiterhin in den meisten Fällen nicht möglich und die dann notwendige lebenslange Therapie verursacht häufig starke Nebenwirkungen. Außerdem leiden die Betroffenen unter den psychischen Auswirkungen der dauerhaften Erkrankung. Die Forschenden stehen damit vor neuen Herausforderungen.

„Wir wollen mit Hilfe mathematischer Modelle herausfinden, zu welchem Zeitpunkt die Medikamente abgesetzt oder zumindest reduziert werden können“, erklärt Professor Dr. Ingo Röder von der Technischen Universität Dresden. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das Team aus Dresden im Rahmen der europäischen Fördermaßnahme ERACoSysMed mit rund 300.000 Euro. Aufgrund der Behandlungskosten im fünfstelligen Bereich pro Jahr und Patient würden Fortschritte in diesem Bereich auch dem Gesundheitswesen zugutekommen.

Rund die Hälfte der Betroffenen erleidet einen Rückfall

Bei der CML handelt es sich um eine Leukämie-Erkrankung, die vor allem im Erwachsenenalter ausbricht. Die Betroffenen erhalten die Diagnose typischerweise, wenn sie 60 Jahre oder älter sind. In Deutschland gibt es bis zu 1.700 Neuerkrankungen im Jahr. Im Gegensatz zu vielen anderen Krebserkrankungen, die vielfältige Ursachen haben, lässt sich die CML in der Regel auf einen bestimmten Gendefekt in den Blutstammzellen zurückführen.  Dadurch wird ein spezielles Enzym, eine Tyrosinkinase, in den Zellen übermäßig aktiviert, was zu ungebremster Zellteilung und damit zu Krebs führt. Hier setzt auch die Therapie an: Die Tumorzellen werden mit sogenannten Tyrosinkinasehemmern bekämpft, die das kritische Enzym systematisch blockieren. Diese sehr gezielten Therapien sind mit weniger Nebenwirkungen behaftet als etwa Chemotherapien, die unspezifisch alle sich teilenden Zellen im Körper angreifen. Dennoch ist eine dauerhafte Medikamenteneinnahme für viele Patientinnen und Patienten eine Belastung.

Einige Betroffene, die sehr gut auf die Behandlung ansprechen, können derzeit im Rahmen klinischer Studien die Therapie nach einigen Jahren absetzen und somit ihre Lebensqualität verbessern. Bei etwa der Hälfte der Patientinnen und Patienten kehrt die Krankheit dann allerdings zurück. Ein solcher Rückfall lässt sich sehr genau und früh mit Hilfe von PCR-Analysen ermitteln, die die sogenannte Tumorlast im Blut bestimmen. „Medizinisch gesehen ist das Absetzen dadurch sehr gut abgesichert, da die Therapie, wenn nötig, rechtzeitig wiederaufgenommen werden kann. Aber psychisch ist die Unsicherheit weiterhin eine große Belastung für die Patientinnen und Patienten“, erläutert Röder.

Nach dem Absetzen müssen die Betroffenen mit der Angst vor einem Rückfall leben und die enttäuschte Hoffnung nach einem erfolgten Rückfall lastet teilweise schwerer auf der Psyche der Betroffenen als die erste Diagnose. Wer einen Rückfall erleidet und wer nicht, kann bislang nicht vorhergesagt werden. „Wir vermuten, dass das individuelle Immunsystem der Patientinnen und Patienten eine entscheidende Rolle bei der Tumorabwehr spielt“, erklärt Dr. Ingmar Glauche von der TU Dresden. Das Ziel des Forschungsteams ist es, die komplexen Zusammenhänge zwischen Tumor- und Immunzellen der Betroffenen während und nach Absetzen der Therapie zu verstehen. Dafür setzt es auf mathematische Modelle.

Potenzial mathematischer Modelle nutzen

Um ein aussagekräftiges Modell zu erstellen, benötigt das Team vielschichtige Daten vieler Krankheitsverläufe über sehr lange Zeiträume. Dafür kooperieren die Dresdener in dem Projekt mit klinischen Partnern aus Deutschland, Frankreich sowie Norwegen und Finnland. Nur so können sie ausreichend viele Datensätze in ihre Analysen einbeziehen. Inzwischen konnte das Team Modelle aufstellen, die das Ansprechen auf die Therapie, den Krankheitsverlauf und die Wirkung immunologischer Komponenten abbilden. Mit Hilfe dieser Modelle können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Computer verschiedene Therapiestrategien ausprobieren und berechnen, um künftig die Therapien für jede Patientin und jeden Patienten individuell zu optimieren. Insbesondere wollen sie die Personen identifizieren, für die ein Absetzen der Therapie in Frage kommt. „Für die Patientinnen und Patienten wäre das eine enorme Erleichterung. Wir hoffen außerdem, dass für die Patienten, die die Therapie nicht absetzen können, wenigstens eine Reduzierung der Medikamentendosis und damit hoffentlich der Nebenwirkungen möglich ist“, fasst Röder die Erwartungen des Projektteams zusammen.

Das Projekt steht inzwischen kurz vor dem Abschluss. Die gewonnenen Ergebnisse will das Forschungsteam jetzt nutzen, um konkrete Vorschläge für klinische Studien einzubringen. Je nachdem wie Behandelte auf die anfängliche Therapie reagieren, können die Forschenden Empfehlungen abgeben, wer voraussichtlich keinen Rückfall nach Absetzen der Therapie erleiden wird und welche Dosierung für den individuellen Krankheitsverlauf optimal ist. Noch sind die Forschenden nicht am Ziel, aber in wenigen Jahren soll es so weit sein. „Wir hoffen, dass wir mit unseren Modellen für diese sehr klar definierten und gut zu beantwortenden klinischen Fragestellungen das Potenzial von mathematischen Modellen zeigen können“, erklärt Röder. „Unsere Modelle sind keine Spielerei, sondern sollen einen greifbaren Vorteil für das Wohlergehen der Patientinnen und Patienten liefern.“

 

Quelle: Newsletter „Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung" Nr. 103