Der Blick für das Ganze braucht Perspektive

Antike Statue des Philosophen Aristoteles

Für Aristoteles ist jedes Lebewesen das Ergebnis eines aus sich selbst heraus gesteuerten Entwicklungsprozesses, der zu einer zweckhaften Form führt. (Quelle: Panos Karapanagiotis/iStock/Thinkstock)

Warum die Systembiologie ihre philosophische Seite entdecken sollte

Von Stefan Artmann

Das ambitionierte Ziel der Systembiologie, Organismen auf der Basis gewaltiger Datenmengen so umfassend wie möglich in mathematisch präzisen Modellen zu beschreiben, hat viele philosophische Facetten: von der Definition des Systembegriffs über die Beziehung zwischen abstraktem Modell und konkretem Lebewesen bis zum Ort der Systembiologie in der Wissenschaftsgeschichte. Wenn sich Systembiologen fragen, in welche Richtung sie ihre Disziplin weiterentwickeln sollen, dann liegt es nahe, auch Philosophen in den Dialog einzubeziehen. Gesprächsstoff gibt es genug: Sind Systeme ‚Ganzheiten‘? Ist Leben mathematisch fassbar? Hat der Einstieg in die biologische Großforschung begonnen?

Wer sich auf die Suche begibt, wo in der westlichen Geistesgeschichte erstmals versucht worden ist, das Lebendige auf Grund genauer Beobachtungen rational nachvollziehbar zu erklären, landet unvermeidlich in der griechischen Antike und dort insbesondere bei dem Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.). Für Aristoteles lebt ein Gegenstand, wenn er in einem aus sich selbst heraus gesteuerten Prozess die ihm eigentümliche Form entwickelt und bewahrt, die das zweckvolle Zusammenspiel seiner Organe verwirklicht – beispielsweise beim Stoffwechsel und der Sinneswahrnehmung. Modern formuliert: Aristoteles definiert ein Lebewesen als sich selbst organisierendes System funktional ausdifferenzierter Teilsysteme, die gemeinsam dafür sorgen, dass das System bestimmte Verhaltensweisen realisieren kann.

Ungefähr 2000 Jahre nach Aristoteles beschreibt einer der bedeutendsten Philosophen der Neuzeit, Immanuel Kant (1724–1804), den Organismus auf eine ähnliche Weise. Lebewesen sind nach Kant Gegenstände, die durch und durch von innerer Zweckmäßigkeit geprägt sind: Der Organismus bildet eine Einheit, die sich selbst organisiert, indem jeder ihrer Teile für jeweils alle anderen zugleich Mittel und Zweck ist. Das heißt, dass jedes Organ zum Überleben des ganzen Organismus beiträgt, aber auch nur dank der zweckhaften Ordnung des ganzen Organismus funktionstüchtig ist.

Aristoteles und Kant sind zwei Philosophen, die die Eigenschaft, Systeme zu bilden, als entscheidendes Merkmal von Lebewesen betrachtet haben. Daher wären beide von der heutigen Systembiologie fasziniert – und würden zugleich die Erfolgsaussichten der Systembiologen in Frage stellen.

Systemisch oder ganzheitlich? Plädoyer für eine deutliche Grenzziehung

Aristoteles und Kant wären davon irritiert, dass die Systembiologie versucht, das Systemische an Lebewesen mathematisch präzise mittels einer quantitativen Modellierung physikalisch-chemischer Prozesse zu erklären. Denn für beide Philosophen ist genau dies prinzipiell unmöglich. Ihr wichtigstes Gegenargument lautet: Die systemische Einheit eines Lebewesens gründet sich auf das zielgerichtete Ineinandergreifen seiner Teile, das in Begriffen wie Funktion und Zweck qualitativ beschrieben werden muss. Solche Begriffe kommen aber nicht in den Gesetzen der Physik und Chemie vor, die quantitative Größen betreffen und denen die stofflichen Bestandteile des Lebewesens unterworfen sind. Kant hat daraus geschlossen, dass es „für Menschen ungereimt (sei) … zu hoffen, dass noch dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde“ (Kant, 1968, p. 400). Zu einer solchen Erklärung des Zweckhaften auf der Grundlage ‚absichtsloser‘ Gesetze will aber die Systembiologie beitragen.

Gerade weil Philosophen wie Kant und Aristoteles mit den Systembiologen darin übereinstimmen, dass der systemische Charakter von Lebewesen für sie wesentlich ist, sollten Biologen ihren Systembegriff deutlich von solchen abgrenzen, mit deren Hilfe ihr Forschungsprogramm für illusorisch erklärt werden kann. Das heißt auch, dass Systembiologen sich von einem Begriff wie ‚Ganzheit‘ verabschieden sollten. Denn Lebewesen als Ganzheiten zu präsentieren und folgerichtig ihr holistisches Verständnis zu fordern, ist geistesgeschichtlich mit solchen philosophischen Positionen verknüpft gewesen – und immer noch verknüpft –, die die Biologie für eine prinzipiell andere Wissenschaft als Physik und Chemie halten (Harrington, 2002). Spielarten hiervon sind die Annahme einer nicht-mechanischen Lebenskraft (Vitalismus) und die Unterstellung, dass das strukturbildende Zusammenwirken materieller Prozesse im Organismus durch Faktoren geordnet wird, die mittels einer Art Top-Down-Kausalität des Ganzen auf seine Teile wirken (Organizismus).

Aus philosophischer Sicht ist die Systembiologie geradezu der Versuch, holistische Ganzheitslehren überflüssig zu machen. Dies sollten sich Systembiologen bewusst machen, wenn sie nicht ungewollt Gewährsleute für das Wiederaufleben wissenschaftlich in die Irre führender Philosophien des Lebens sein wollen.

Auf dem Weg zur Strukturwissenschaft lebender Systeme

Ein Systembegriff, wie er in der Biologie verwendet werden sollte, kann nur im Zusammenhang mit anderen Konzepten entwickelt werden, die in den letzten Jahrzehnten eine immer größere Bedeutung für die lebenswissenschaftliche Forschung angenommen haben. Begriffe wie Selbstorganisation und Information sind unabdingbar, wenn es darum geht, Lebewesen als funktional komplexe materielle Systeme biologisch fassbar zu machen.

Naturwissenschaftlich geprägte Philosophen wie Carl Friedrich von Weizsäcker und Bernd-Olaf Küppers haben Forschungsprogramme, denen es um die formale Bestimmung und empirische Anwendung solcher Begriffe geht, Strukturwissenschaften genannt (Küppers, 2008, S. 313ff.). Beispiele sind die Kybernetik, die Informations- und die Netzwerktheorie. Strukturwissenschaften beschreiben auf mathematische Weise abstrakte relationale Ordnungen – also Strukturen – wie z.B. Regelkreise, Kodes und Netzwerke. Die möglichst vielfältige Anwendung ihrer formalen Modelle auf unterschiedlichste Bereiche der Erfahrungswirklichkeit ist der eigentliche Antrieb der Strukturwissenschaften – nicht die Formalisierung um ihrer selbst willen. Zwischen den verschiedenen Anwendungsbereichen werden Analogien gesehen, so dass etwa mittels der Informationstheorie Ingenieurwissenschaftler, Biologen und Linguisten voneinander lernen können.

In der Systembiologie kann der Ausgangspunkt einer strukturwissenschaftlichen Betrachtungsweise die intuitive Vorstellung eines Systems als Menge von Elementen sein, zwischen denen Beziehungen bestehen, die das Verhalten der miteinander verbundenen Elemente mitbestimmen und hierdurch das System von seiner Umwelt abgrenzen. Um die dynamischen Eigenschaften von Organismen abstrakt zu fassen, kann diese einfache Systemvorstellung durch Modelle der Selbstorganisation ergänzt werden. Für die formale Darstellung des Ordnungstyps von Lebewesen liegt es nahe, Netzwerkmodelle zu verwenden. Und um den funktionalen Charakter organischer Prozesse mathematisch zu fassen, bietet sich die Informationstheorie an, die Signale als bedeutungstragend betrachtet, weil ihr Vorkommen bestimmte Prozesse auslöst oder inhibiert, so dass diese Signale hierdurch eine Funktion im Organismus besitzen (Artmann, 2011).

Werden solche strukturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen zusammengeführt, lässt sich die Systembiologie als diejenige biologische Disziplin definieren, die die Einheit des Organismus in seiner Umwelt erklärt, indem sie zeigt, wie er sich als komplexes Netzwerk in einer Umwelt informationsgesteuert selbst organisiert. Je nach Schwerpunkt eines Forschungsprojekts können einzelne Aspekte dieser Definition hervorgehoben werden – z.B. der informationelle, so dass etwa eine Zelle vorrangig als bedeutungsverarbeitendes System betrachtet wird (Görlich et al., 2011). Ein deutliches Bewusstsein dieses Zusammenspiels strukturwissenschaftlicher Begriffe kann der Systembiologie helfen, angesichts der empirischen und technischen Herausforderungen, vor denen sie steht, den Kombinationsspielraum ihrer Grundbegriffe besser auszuschöpfen.

Quo vadis, Systembiologie?

Der Systembiologie geht es nicht mehr nur darum, abstrakte Modelle von grundlegenden Eigenschaften lebender Wesen aufzustellen und radikal vereinfachte Realisierungen zu konstruieren – so wie es beispielsweise John von Neumann (1903–1957) mit seiner strukturwissenschaftlichen Theorie sich selbst reproduzierender Automaten versuchte. Denn gleichzeitig wendet die Systembiologie solche Modelle auf konkrete Lebewesen an. Philosophisch formuliert, geht es ihr damit um die ideelle Synthese wirklicher Organismen. Dies ist möglich, weil eine immer größere Menge von Messdaten zu einzelnen Vorgängen in Lebewesen erhoben und mit Hilfe des Computers analysiert werden kann, um sie für die Entwicklung und Überprüfung mathematischer Modelle der kausalen Struktur immer umfassenderer Prozesse in Organismen zu nutzen (Küppers, 2008, pp. 412f.). Darauf aufbauend versucht die synthetische Biologie, mögliche Organismen real herzustellen.

Das systembiologische Ziel, große Mengen empirischen Wissens über einzelne Prozesse in einem Organismus in umfassende mathematische Modelle des Gesamtorganismus zu integrieren, führt zwangsläufig zu Forschungseinrichtungen, deren Ausmaße in der Biologie bisher unbekannt waren: Sie wird zur Großforschung – auch wenn ihre Organisationsformen anders aussehen mögen als in der Physik, die diesen Prozess vor mehr als fünfzig Jahren durchlief. Dies ist ein wissenschaftssoziologisches Indiz dafür, dass die Systembiologie keine Ausnahmeerscheinung in der Geschichte der modernen Wissenschaft ist, sondern den mühevollen Weg überaus fruchtbarer Forschungsprogramme geht, die durch theoretische Fortschritte bekannte empirische Tatsachen erklären und neue empirische Tatsachen korrekt voraussagen. Eine solche nüchterne Sicht auf die zukünftige Entwicklung der Systembiologie mag überzogene Hoffnungen enttäuschen, zeigt aber zugleich auf, dass sich die Mühe lohnen kann. Quo vadis, Systembiologie? Per aspera ad astra! Über raue Wege zu den Sternen!

Referenzen:
Artmann, S. (2011). Biological information. In A Companion to the Philosophy of Biology, S. Sarkar and A. Plutynski, eds. (Chichester, UK: Wiley-Blackwell), pp. 22–39.
Görlich, D., Artmann, S., and Dittrich, S. (2011). Cells as semantic systems. Biochimica and Biophysica Acta 1810, 914–923.  Harrington, A. (2002). Die Suche nach Ganzheit: Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung (Reinbek bei Hamburg, Germany: Rowohlt Taschenbuch Verlag).
Kant, I. (1968). Kritik der Urtheilskraft (Erstausgabe 1790). In Kants Werke: Akademie-Textausgabe Band V (Berlin, Germany: Walter de Gruyter & Co.), pp. 165–485.
Küppers, B.-O. (2008). Nur Wissen kann Wissen beherrschen: Macht und Verantwortung der Wissenschaft (Köln, Germany: Fackelträger Verlag).

Bild von PD Dr. Stefan Artmann

Kontakt

PD Dr. Stefan Artmann
Institut für Philosophie
Frege Centre for Structural Sciences
Friedrich-Schiller-Universität Jena
E-Mail: stefan.artmann@uni-jena.de