Forschungsteam entwickelt Simulator, der Schwachstellen des Tumors aufdeckt
Von Melanie Bergs und Gesa Terstiege
Schätzungen zufolge wird die Zahl der Krebskranken in den kommenden Jahren sprunghaft ansteigen. Bereits im Jahr 2020 könnte jeder Zweite im Alter an Krebs leiden. Bislang zeigen viele Krebsmedikamente jedoch nicht die gewünschte Wirkung. Hier bietet die Forschung neue Ansatzpunkte: Das Berliner Unternehmen Alacris Theranostics hat ein Computermodell entwickelt, das die individuellen Schwachstellen eines Tumors ermittelt und so eine maßgeschneiderte Behandlung möglich macht. Dabei wurden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen des Forschungsprojekts „Treat20plus“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt.
Jeder Tumor besitzt einen genetischen Fingerabdruck. Doch die individuellen Merkmale der einzelnen Tumorzellen werden bei der Therapie von Krebserkrankungen bisher kaum berücksichtigt. Ärztinnen und Ärzte können sich bei der Wahl der richtigen Behandlungsmethode derzeit in erster Linie auf ihre Erfahrungen verlassen. Ansonsten bleibt ihnen nur das „Trial-and-Error“-Prinzip. „Das hat zur Folge, dass viele Patientinnen und Patienten nicht so auf ihre Krebsmedikamente reagieren wie erhofft und dazu teilweise unter erheblichen Nebenwirkungen leiden“, sagt Bodo Lange, Geschäftsführer von Alacris Theranostics.
Die Berliner Firma hat zusammen mit Forschungsgruppen des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik ein Computermodell entwickelt, das eine maßgeschneiderte Krebstherapie möglich macht.
Hierfür hat Alacris vor Kurzem den Deutschen Innovationspreis unter der Schirmherrschaft des Bundesforschungs- und des Bundeswirtschaftsministeriums erhalten. „In vielen Bereichen des Lebens, wo hohe Risiken bestehen, spielt man Situationen vorher am Computer durch. Im Flugsimulator oder bei Crashtests können Gefahren so vorausgesagt und vermieden werden“, erklärt Lange. „Wir wollen ein ähnliches System in der Medizin einführen, damit Medikamente zuerst am Computer an ‚virtuellen Patienten‘ getestet werden, noch bevor sie der Krebskranke verabreicht bekommt.“ Schwere Nebenwirkungen lassen sich damit ebenso vermeiden wie das Verschreiben überflüssiger Medikamente.
Einsatz in der Medikamentenentwicklung geplant
Das Modell identifiziert die molekularen Schwachstellen des Tumors und ermittelt die passenden Wirkstoffe, die genau diese Stellen angreifen und somit das Wachstum des Tumors stoppen können. Die Forscherinnen und Forscher erfassen hierfür die genetischen Besonderheiten des Tumors, indem sie das Erbgut der Tumorzellen mit dem Erbgut gesunder Zellen vergleichen. Zudem wird untersucht, welche dieser tumorspezifischen Veränderungen tatsächlich im Tumor aktiv sind und diesen somit charakterisieren. Darüber hinaus fließen in das Modell Daten aus Medikamentenstudien, der Genforschung und eigene Forschungsergebnisse ein.
Der Simulator des Berliner Forscherteams soll auch in der Medikamentenentwicklung zum Einsatz kommen. „Gerade in der Krebsforschung fallen derzeit rund 95 Prozent der Medikamente bereits in den klinischen Versuchen durch, weil sie nicht an den passenden Patienten getestet werden“, erklärt Lange. „Unser Computermodell könnte bereits im Vorfeld voraussagen, welche Patientengruppe für die Tests eines bestimmten Wirkstoffs geeignet wäre.“ Die Entwicklung von Alacris stößt daher auch bei Pharmakonzernen auf großes Interesse. Die Firma kooperiert unter anderem mit Bayer und GlaxoSmithKline. Das Modell soll nun in klinischen Studien getestet und weiter verfeinert werden. Geschäftsführer Lange rechnet damit, dass die Entwicklung seiner Firma nach einer Zertifizierung in etwa zwei Jahren im Klinikalltag ankommt.
Rheuma-Wirkstoff hilft Hautkrebs-Patienten
Bei der Wahl der passenden Medikamente greift das Alacris-Modell nicht nur auf geläufige Wirkstoffe zur Krebsbehandlung, sondern auch auf andere Arzneimittel zurück. „Wir haben in unserer Datenbank die Wirkweisen von rund 130 Medikamenten erfasst“, sagt Lange. So konnte der Simulator bereits einem Hautkrebs-Patienten im Endstadium der Krankheit helfen – mit einem Mittel gegen rheumatoide Arthritis, ein Wirkstoff, der in der Standardtherapie nicht zum Einsatz gekommen wäre. „Die Situation des Patienten hat sich ein Jahr lang stabilisiert“, sagt Lange. „Für den Erkrankten war das sicherlich ein großer Gewinn.“
Dieser Beitrag ist im Newsletter des Bundesforschungsministeriums "Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung" erschienen (Ausgabe 74/2015).