Anmerkungen zur Ethik der synthetischen Biologie
Von Thorsten Moos
In der ethischen Debatte um die synthetische Biologie lassen sich zwei Stränge unterscheiden. Der eine, fundamentale Strang behandelt Grundfragen des Verhältnisses von Leben und Technik, insbesondere anhand des Begriffs „künstliches Leben“; im anderen, eher pragmatischen Strang bündeln sich konkrete forschungs- und anwendungsethische Problemstellungen.
Die synthetische Biologie – das dürfte zu einem Gutteil ihren Reiz ausmachen – spielt mit der kulturell tief verwurzelten Grenze von Natürlichem versus Künstlichem, Lebendigem versus Technischem, Gegebenem versus Gemachtem. Diese Grenze ist niemals fest gewesen, sondern hat sich immer wieder verschoben. Seit Menschen begannen, die dickeren Körner zur Wiederaussaat zurückzubehalten, haben sie in das Leben, das sie vorfanden, eingegriffen. Nicht erst in der Moderne ist dieser Umstand auch reflektiert worden: Das gegebene Leben enthält immer auch Gemachtes und in diesem Sinne Künstliches. So präsentiert etwa die Architektur englischer Gärten eine besonders ‚natürliche‘ Natur als Resultat sorgfältigster Planung. In diesem Sinne steht die synthetische Biologie in einer Kontinuität von Biotechnologien der Domestizierung, Züchtung und genetischen Modifikation von Leben.
Nichts Neues also? Nun, immerhin kommt in der Debatte um die synthetische Biologie diese Grenze auf neue Weise zu Bewusstsein. Denn die teils praktizierte, teils programmatische Anwendung ingenieurtechnischer Methoden auf das Gebiet des Lebendigen geht einher mit dem Versprechen, die Lücke zwischen dem Lebendigen und dem technisch Hergestellten zu schließen. Wenn die Top-Down-Ansätze einst erfolgreich eine Minimalzelle erzeugen und die Bottom-Up-Ansätze bis zur Protozelle gekommen sein werden, dann – so die Vision der synthetischen Biologie – werden die Mechanismen des Lebens nicht nur verstanden, sondern auch standardisiert und beherrschbar sein, sodass Lebewesen mit nahezu beliebigen Zwecken entworfen und gebaut werden können.
Grenzen zwischen Natürlichem und Künstlichem werden aufgehoben
Die Grenze zwischen Gegebenem und Gemachtem, Natürlichem und Künstlichem wird dann nicht wieder einmal verschoben, sondern endgültig aufgehoben sein. Dafür steht der Begriff des künstlichen Lebens, der im Kern des „Hypes“ (Grunwald, 2013) um die synthetische Biologie steht. In dieser Leitvorstellung gründen sowohl der forschungsgelderzeugende Glanz der synthetischen Biologie wie auch das Unbehagen an ihr, das mit Hilfe von Mythen wie „Golem“ oder „Frankenstein“ wie auch religiös in der Anmerkung, der Mensch dürfe nicht Gott spielen (Boldt et al., 2012), artikuliert wird.
Die Rede vom künstlichen Leben ist ambivalent. In einem weiteren Sinne verstanden, kann sie ethisch fruchtbar sein. Im strengen Sinne halte ich sie jedoch für falsch, da sich zeigen lässt, dass es schon unter recht schwachen begrifflichen Voraussetzungen künstliches Leben nicht geben kann. Unter „künstlich“ verstehe ich: technisch hergestellt im Sinne Hannah Arendts (Arendt, 2011), also zweckhaft modelliert und produziert, sodass das Hergestellte Produkt ist und bleibt (also insbesondere bedenkenlos wieder zerstört werden kann). „Leben“ zu definieren möchte ich nicht versuchen. Was auch immer es sei: Hier soll nur vorausgesetzt werden, dass der Zugang, den wir als Menschen zum Lebendigen haben, dadurch ausgezeichnet ist, dass wir selbst Leben sind. Wenn wir etwas als lebendig wahrnehmen bzw. anerkennen (Rehmann-Sutter, 2013), erkennen wir das Lebendige, das uns ausmacht, in ihm wieder.
Sollte es also eines Tages gelingen, bottom up im Labor selbstreplizierende, stoffwechselnde, irritable Systeme zu erzeugen (woran zu zweifeln ich keinen prinzipiellen Grund sehe), und sollten wir diese tatsächlich als Leben erkennen, dann werden diese Systeme im selben Moment aufhören, bloß Produkte, also im genannten Sinne „künstlich“ zu sein: eben da sie uns, die wir Leben sind, als Leben gegenübertreten. Der Mythos lässt Golem und Frankenstein sich gegen ihre Schöpfer wenden; im Science-Fiction verliebt sich die Ingenieurin in den im doppelten Sinne gut gebauten Robotermann. Wir können dem Leben gegenüber (unabhängig davon, wie es entstand) aus prinzipiellen Gründen keine rein technisch-herstellende Haltung einnehmen. In diesem Sinne gibt es kein künstliches Leben.
Die Vision künstlichen Lebens und die nötige Nüchternheit der Ethik
Auch wenn es kein künstliches Leben gibt, mag es doch sinnvoll sein, davon zu reden, solange diese Rede als paradox durchschaut ist. Denn es geht bei dieser Grenze von „natürlich“ und „künstlich“ um Grundbedingungen wissenschaftlich-technischen Handelns. Alles Gemachte enthält Anteile des Gegebenen; alles, was wir tun, ruht auf Vorbedingungen, die wir nicht selbst erzeugt haben, und die auch nicht komplett beherrschbar sind. Aus dieser Einsicht entsteht ein gutes Misstrauen gegen die Reißbrett-Metapher, die die synthetische Biologie begleitet – so als könne die reine Idee bruchlos wirklich werden. Spätestens, wenn es um Leben geht, dürfte diese Leonardo-da-Vinci-Idee menschlicher Kreativität an der Widerständigkeit des Wirklichen scheitern. So hat man die Praxis der synthetischen Biologie auch eher als Basteln (tinkering) denn als Planen (blueprinting) bezeichnet (Köchy, 2013) (Das ist auch der Wahrheitsgehalt der missverständlichen Rede vom „Gott-Spielen“: Nicht, als dürfe der Mensch nicht Gott spielen, das ist theologisch Unsinn; sondern er kann es schlicht nicht. Die Idee der voraussetzungslosen und durch nichts gehinderten Kreativität ist naiv, und es mag helfen, sich das hin und wieder vor Augen zu führen.)
Es bedarf also an der Grenze von Wissenschaft und Gesellschaft eines aufgeklärten Umgangs mit den großen Erwartungen, die emerging technologies begleiten. Armin Grunwald hat darauf hingewiesen, dass die Produktion von „Technovisionen“ (Grunwald, 2013) zwar bei der Generierung von Forschungsgeldern hilfreich ist, sich aber gesellschaftlich negativ auswirken kann, wenn sie Protest, Frustration oder schlicht Ermüdung hervorruft. Für die Ethik heißt das, dass sie sich von diesem visionären Überschwang nicht vorschnell zu einem entsprechenden moralischen Überschwang hinreißen lassen darf. Wir wissen schlicht zu wenig darüber, was sich als wirklich ethisch problematisch herausstellen wird. Eine nüchterne Aufmerksamkeit steht da gut zu Gebote. Allerdings lässt sich darüber, in welche Richtungen es sich lohnt, diese Aufmerksamkeit zu richten, doch etwas sagen. Damit ist der pragmatische Strang der Debatte erreicht. Hierzu will ich drei Punkte nennen, die meines Erachtens bisher zu wenig Aufmerksamkeit erfahren.
Wer bastelt?
Technologische Umschwünge gehen immer auch mit Elitenwechseln einher. Mit der industriellen Revolution kamen die Bürger und entmachteten endgültig den Adel. Wer sind die Eliten der synthetischen Biologie? Hier geschieht etwas Interessantes: Das Feld der Akteure erweitert sich in zweifacher Hinsicht. Zum einen disziplinär: Die hochgradig interdisziplinäre Struktur der synthetischen Biologie erlaubt einer Fülle von Disziplinen, am Glanz der Lebenswissenschaften teilzuhaben. Selbst die seit der Fertigstellung der Atombombe etwas an Relevanzdepressionen leidende Physik darf wieder mitspielen. Zum anderen strukturell: Klassische Biotechnologiezweige zeichnen sich durch hohe Konzentration aus; wenige große Player dominieren den Pharmasektor oder die Grüne Gentechnik.
In der synthetischen Biologie spielen hingegen nicht nur die etablierten Großforschungseinrichtungen in Universität, Forschungsgesellschaften, Industrie und Militär eine Rolle. Auch in der Garage scheint einiges möglich. Dafür spricht etwa der iGEM-Wettbewerb, bei denen Gruppen von Nichtgraduierten um die Wette an neuen Organismen werkeln, dafür spricht auch das Phänomen der „Biohacker“ und Do-it-yourself-Biologen. Die Baukastenstruktur der synthetischen Biologie erlaubt, dass viele mit diesen Bauklötzen spielen. Ich bin skeptisch, ein neues Zeitalter wissenschaftlicher Schwarmintelligenz, eine Art Wikipedia-Struktur der Forschung, auszurufen; aber es lohnt sich, aufmerksam zu beobachten, inwieweit sich die Struktur der Forschungsinstitutionen tatsächlich erweitert oder verschiebt. Denn daran unter anderem hängt es, ob die Öffentlichkeit Vertrauen in die wissenschaftlichen Akteure findet und sich das Missbrauchspotential der synthetischen Biologie eindämmen lässt.
Wer denkt mit?
Wenn sich zum einen die kommenden heiklen Aspekte der synthetischen Biologie erst im Laufe der Zeit abzeichnen und sich zum anderen die Wissenschaft umstrukturiert, entsteht eine weitere Frage: Gibt es in den an der synthetischen Biologie beteiligten Wissenschaften ein funktionierendes Frühwarnsystem für wichtige gesellschaftliche Fragen? Gibt es ein Bewusstsein dafür, gibt es entsprechende Orte und Institutionen, diese zu thematisieren, und gibt es – das vor allem – genug Zutrauen in die Öffentlichkeit und in die Politik, dass sich eine öffentliche Debatte auch lohnen würde? Jedenfalls bedarf die öffentliche Debatte nicht nur guter Einrichtungen der Technikfolgenabschätzung und Bioethik, sondern auch einer entwickelten ethischen Sensibilität unter den forschenden Wissenschaftlern/-innen selbst.
Wer steuert?
Schließlich gilt es, die Entwicklungsdynamik der synthetischen Biologie zu beobachten und zu verstehen. Diese hängt ja nicht nur an wissenschaftlicher Genialität und am Forschungserfolg, sondern auch an Förderkulissen und Forschungsmöglichkeiten. Hier gibt es wiederum viele Player: die öffentliche, visionsgetriebene Förder-politik, insbesondere der EU; das industrielle und durchaus auch das militärische Engagement. Wenn also die synthetische Biologie nur ein wenig so chancenreich ist, wie behauptet, dann liegt es im gesellschaftlichen Interesse, zu verstehen, wer die synthetische Biologie wohin zieht. Ich will damit nicht naiven Phantasien das Wort reden, Wissenschaft ließe sich gesellschaftlich einfach auf gewünschte Ziele hinsteuern. Die Mechanismen, die die Wissenschaften lenken, sind mindestens so kompliziert wie die Signalwege in einer Zelle. Hier wie da sollten wir aber verstehen, wo die entscheidenden Stellschrauben sind; das liegt meines Erachtens im gemeinsamen Interesse von Wissenschaft und Gesellschaft.
Referenzen:
Arendt, H. (2011). Vita activa oder Vom tätigen Leben (München, Germany: Piper), pp. 161ff.
Boldt, J., Müller, O., Maio, G. (ed.) (2012). Leben schaffen? Ethische Refl exionen zur synthetischen Biologie (Paderborn, Germany: Mentis).
Grunwald, A. (2013). Synthetische Biologie zwischen Durchbruch und Hype. In Werkstatt Leben. Bedeutung der Synthetischen Biologie für Wissenschaft und Gesellschaft, Deutscher Ethikrat, ed. (Berlin, Germany: Deutscher Ethikrat), pp. 51-65.
Köchy, K. (2012). Philosophische Implikationen der Synthe-tischen Biologie. In Synthetische Biologie. Entwicklung einer neuen Ingenieurbiologie?, Themenband der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht, K. Köchy, A. Hümpel, ed. (Berlin, Germany: Forum) pp. 137-161.
Rehmann-Sutter, C. (2013). Das „Leben“ synthetischer Zellen. In Werkstatt Leben. Bedeutung der Synthetischen Biologie für Wissenschaft und Gesellschaft, Deutscher Ethikrat, ed. (Berlin, Germany: Deutscher Ethikrat), pp. 75-88.
Zur Person
Dr. Thorsten Moos ist Diplomphysiker und Theologe und leitet den Arbeitsbereich „Religion, Recht und Kultur“ an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten der Bio- und Medizinethik sowie der Grundlagen theologischer Ethik. Der vorliegende Text ist ein geringfügig überarbeitetes Statement aus der Podiumsdiskussion „Konstruiertes Leben -synthetisch, praktisch, ... gut?“ anlässlich der Konferenz „Synthetik Biology – from understanding to application“, 9.-11. Dezember 2013 am DKFZ in Heidelberg.
Die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) ist ein außeruniversitäres, hochgradig interdisziplinär ausgerichtetes Forschungsinstitut, dessen Schwerpunkte unter anderem auf den Themenfeldern Religion im Kontext von Kultur, Ethik und Recht, Nachhaltige Entwicklung, Friedensforschung sowie Anthropologie und Naturphilosophie liegen.